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Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.
Adorno (Minima Moralia)

„Opfer nicht zu Wahlkampfzwecken missbrauchen“, so titelte Die Welt1 einige Zeit nach der Silvesternacht in Köln, ein selten hellsichtiger Moment in der zuweilen nebulösen Interessengemengelage politischer (und medialer) Wortergreifung. Menschen, die zu Opfern werden, sind ein fester Bestandteil unserer bewussten und unbewussten realen und medialen Welt. Doch nicht erst seit der Silvesternacht in Köln erscheint es mir dringlich, darüber nachzudenken, warum in einer vorgeblich zivilisierten Welt nach wie vor Menschen zu Opfern werden.

Die kriminologische Definition von „Opfer“ bietet einen guten gedanklichen Einstieg in das komplexe Thema. Das gemeinsame Kriminologie-Lexikon des Lehrstuhls für Kriminologie und Polizeiwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum und des Instituts für Kriminologie der Universität Tübingen legt dar: „Opfer (lat., victima) zu werden bedeutet, durch eine Straftat oder ein Ereignis unmittelbar oder mittelbar physisch, psychisch und/oder materiell geschädigt zu werden.“ Und weiter: „Der Begriff ‚Opfer‘ hat zwei unterschiedliche Bedeutungen: ‚Opfer-Sein‘ (victim) und ‚Opfer-Bringen' (sacrifice). ‚Opfer-Sein' wird mit Passivität, Fremdbestimmung, Abhängigkeit, Ohnmacht und Hilflosigkeit assoziiert und dem gesellschaftlichen Bereich zugeordnet und ist Ausdruck von sozialen Machtverhältnissen. ‚Opfer-Bringen' wird eher als aktive, freiwillige Entscheidung definiert, die mit Anerkennung belohnt und dem privaten Bereich (Liebe, Familie, Religion) zugeordnet wird.“2 Ich möchte mich hier einigen Überlegungen zur ersten Bedeutungsebene des Wortes widmen.

Wie wird man überhaupt zum Opfer? Man wird in dem Moment zum Opfer, in dem man bereit ist zu akzeptieren, dass man etwas nicht kann. Dass man nicht die Kraft, die Schnelligkeit, die Cleverness besitzt, sich aus einer misslichen Lage zu befreien. Dass man nicht davonlaufen, sich wehren oder einer ungünstigen Situation entledigen oder sich herausmogeln kann. Man ist ein Opfer, wenn man Gegebenheiten als unabänderlich akzeptiert, anderen Akteuren die (einem schadende) Initiative überlässt oder schlimme Befindlichkeiten hinnimmt, in dem Glauben, sie seien petrifiziert. Steht also vor der Hingabe, der Kapitulation an eine bestimmte vorgefundene oder sich im Moment der Einfindung ereignende Situation erst einmal eine bewusste Entscheidung?

Opfer zu sein, hat durchaus mit der freien Willensentscheidung des Menschen zu tun, bzw. mit seiner Wahlfreiheit, oder lat. liberum arbitrium, im philosophischen Lexikon definiert als „das Vermögen des Menschen, sich ohne äußeren Zwang für eine von mehreren Alternativen entscheiden zu können. In der Wahlentscheidung geht es nicht um die Freiheit (libertas) überhaupt, sondern um das abwägende Beraten der für das anstehende Handeln besseren Gründe. Die Freiheit liegt darin, sich von den Möglichkeiten nicht zwingen zu lassen, d.h. in der Fähigkeit, immer das Bessere vorziehen, das Schlechtere ablehnen zu können. Diese Ungezwungenheit gestattet es dem Menschen, sich von den scheinbar erdrückenden Umständen loszureißen und einen Standpunkt zu gewinnen, der ihn in die Lage versetzt, mit sich zu Rate zu gehen. Der Natur wird also eine besondere Kraft entgegengesetzt, die sich in Urteilen äußert, die dem zunächst Plausibleren widerspricht. Das liberum arbitrium ist eine Vorzugswahl, die weder auf reiner Willkür noch auf den von sich her ‚besseren‘ Gründen beruht. Vielmehr ist es das Erscheinen – nicht die verstandesmäßige Gewissheit – eines Besseren, das den Ausschlag für die freie Wahlentscheidung gibt.“3

Wird ein Mensch zum Opfer, verliert er die Möglichkeit zur freien Wahlentscheidung bzw. diese wird ihm genommen. Ein bedrohter oder unterdrückter Mensch ist seiner Ungezwungenheit beraubt. Seine Freiheit ist beschnitten, „scheinbar erdrückende[.] Umstände“ (UTB) verunmöglichen seine unabhängige Handlungsfähigkeit.
Somit sind Arbeits- und Konzentrationslager nicht nur (wie an anderer Stelle bereits angeführt) der Gipfel der Grausamkeit, sondern auch Institutionen, die am tiefsten und am bösartigsten den Opferstatus reproduzieren bzw. verewigen. Kein Mensch sollte solchen Zwangserscheinungen, solcher Freiheitsbeschneidung ausgesetzt sein. Man sollte annehmen können, dass wir uns in diesem, erst einmal rein vom Ideal getragenen Wunsch alle einig sind.

Bewusstes Entscheiden, Ermächtigung und Wahrheit haben also damit zu tun, ob man zum Opfer wird oder nicht. Bewusstsein und Bewusstwerdung setzen allerdings voraus, dass man sich mit Sachverhalten beschäftigt – auch mit solchen, die nicht die eigenen sind. In Abwandlung des Kategorischen Imperativs von Kant: Wer selbst kein Opfer sein will, kann logischerweise auch nicht zugleich wollen, dass anderen der Opferstatus zuteil wird. Eine Welt, in der Menschen zu Opfern werden können, ist eine Welt, in der Krieg, Gewalt, Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Ausbeutung existieren.

Wie kann man verhindern, dass andere zu Opfern werden, oder was kann man tun, um andere aus ihrem Opferstatus zu befreien? Diese Fragen würde ich in der praktischen Philosophie als sehr bedeutend bezeichnen. Sie betreffen und meinen den Zusammenhang mit und das „gute Leben“ an sich, sowie die Frage nach dem generell „guten“ Handeln und Sein. In den Worten Ernst Friedrich Schumachers schließt sich der Kreis zum Bewusstsein objektiver Sachverhalte oder zur Achtsamkeit: „Gutes tun kann nur wer weiß, wie die Dinge sind und liegen.“4

Was objektiv – aus Vernunft und aus Erfahrung – dafür spricht, sich zu bemühen, Viktimisierung generell und immer zu vermeiden, ist nicht zuletzt – neben dem Leiden der direkten Opfer – die Reproduktion des Opferstatus' (man möge meine vielleicht kühl wirkende Argumentation an dieser Stelle entschuldigen, doch kommt sie mir angesichts kalter Ignoranz von vielen Seiten menschlichem Leid gegenüber nötig vor, scheinen doch manche Menschen nur rationalen Argumenten zugänglich zu sein): So geben in Armut und Ignoranz ihrer Möglichkeiten Lebende ihre gefühlte und erlebte Chancenlosigkeit an ihre Kinder weiter; die Opfer von Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung werden, insbesondere im Falle einer fehlenden Therapierung, oft selbst zu Tätern5; im Bürgerkrieg in die Funktion von Soldaten gezwungene Kinder, die vorher sehr oft Schrecklichstes (die Ermordung ihrer Eltern o.Ä.) erlebt haben, werden zu den grausamsten Tötungsmaschinen; angefeindete Angehörige von Minoritäten entwickeln nicht selten selbst Hass/Ressentiments und Rachegelüste nachdem sie Anschlägen oder Angriffen ausgesetzt gewesen sind, – um nur einige dieser Reproduktionsmuster zu nennen.

Es ist in fast allen Fällen (Notwehr gehört in eine andere Kategorie) davon abzuraten, Gewalt auszuüben in der Hoffnung, Gewalt damit zu beenden oder ihr vorzubeugen. Denn es besteht eine gute Chance, dass einmal freigesetzte Gewalt bzw. Grausamkeit zum sich reproduzierenden Selbstläufer wird, dessen Richtung und Wirkungsweise schwer vorhersehbar sind. „Gewalt ist selbst von Übel“, so der Philosoph Karl Popper, „und wir können nicht ein Übel mit einem anderen Übel austreiben.“6

Das Wort „Opfer“ findet schon seit den 2000ern in der Jugendsprache Verwendung und suggeriert, mit der Kindern und Jugendlichen oft eigenen Grausamkeit, dass man als „Opfer“ auf die Welt kommen kann. Anfangs wurde es Wikipedia zufolge noch als Schimpfwort, vielfach „ohne jede Empathie für eventuell erlittenes Leid, sondern in hohem Maße abwertend und verächtlich“ von „jungen männlichen Migranten aus der Türkei und anderen islamischen Ländern gebraucht“, um „meist ebenfalls junge männliche Personen [zu benennen], die sich nicht ausreichend wehren können oder auf andere Weise Schwächen zeigen und allgemein nicht einem Konzept von harter, starker und wehrhafter Männlichkeit entsprechen“.7

Doch die Bedeutung änderte sich im Laufe der Zeit. Mittlerweile verwenden auch „Deutsche ohne Migrationshintergrund, Mädchen, junge Frauen und bürgerliche männliche Jugendliche den Begriff ‚Opfer' scherzhaft als Anrede unter Freunden und Bekannten. Damit mildern sie dessen pejorative Bedeutung ab“, die sich zur Beleidigung „im Sinne von ‚uncool', ‚langweilig', ‚dumm' etc.“ gewandelt hat (ebd.). Wir können uns von dieser Entwicklung – vom Ethnolekt zum Standardjargon, von einer anfänglich erkennbaren Verletzungsabsicht zur später milderen „Veräppelung“ – daran erinnert fühlen, wie gelungene Integration sich vollziehen kann – im Idealfall entschärfend, inklusiv und (beidseitig) partizipativ.

Es mag eine Binsenweisheit sein, ein Gemeinplatz, dass das Wort „Opfer“, genauso wie der Status der „Schwäche“, der in ihm mitklingt, menschlich, gesellschaftlich konstruiert ist. Nichtsdestotrotz vergessen wir das gern. Zum Beispiel im Falle des „schwächeren Geschlechts“, im Falle von Menschen auf der Flucht oder von im Elend Lebenden, im Falle körperlich untersetzter „Nerds“ und anderer. Wo das Ideal „survival of the strongest“ gilt, haben Schwächere das Nachsehen. Jedoch „dort, wo die Sitten die Gewalt verbieten, könnte man auf Muskelkraft keine Herrschaft begründen“. Daraus lässt sich schließen: „[E]s bedarf existentieller, ökonomischer und moralischer Bezüge, um den Begriff der Schwäche konkret zu umreißen.“8

Nichts ist in Stein gemeißelt, unabänderlich in seiner Definition und überdauert die Jahrhunderte. Leben, Bedeutung ist Wandel. Kein Mensch, kein Typ Mensch (siehe: „Frau“, „Flüchtling“, „Nerd“) muss für die Ewigkeit als schwach und/oder ungenügend gelten, das beweist doch schon allein der Aufstieg von Frauen in die Schaltzentralen der Macht oder der von Nerds zu Wissenschafts-/IT-Protagonisten und TV-Serienhelden.

Ein Opfer zu sein, schwach zu sein, hat also viel damit zu tun, in welcher Gesellschaft ich aufwachse, sozialisiert werde, lerne. Natürlich muss den Opfern sexueller Übergriffe in der Kölner Silvesternacht zuerst Recht bzw. Gerechtigkeit widerfahren und müssen die Täter bestraft werden, aber ich möchte dennoch einige provokative (keineswegs chauvinistisch gemeinte) Fragen in den Raum stellen: Ist es nicht besser, dass die übergriffigen Männer vom Kölner Hauptbahnhof hier sind und diese Gesellschaft kennenlernen? Eine Gesellschaft, die von einem patriarchalischen, männlich chauvinistischen Gesellschaftsbild immer mehr abgerückt ist und dies weiter tut, und die andere Umstände, Wesen, Verhältnisse zulässt, als noch zu Zeiten der Hexenverbrennung? Eine Gesellschaft, die Gewalt und Unterdrückung nicht ästhetisiert (das Fass der fiktionalen Gewalt wird an dieser Stelle bewusst zugelassen) und verteidigt, sondern verurteilt und bestraft?

Doch das Ideal der Öffnung anderen gesellschaftlichen Möglichkeiten gegenüber kann nur durch eine offene Gesellschaft auch vermittelt und umgesetzt werden. Sollte sich unsere Gesellschaft den Angekommenen und Ankommenden verschließen, wächst das Risiko und wird die Gefahr real, dass sich Parallelgesellschaften bilden, also bestehende Werte nicht diskutiert werden, und Feindseligkeit schwärt. Auch hier wird die Frage nach der Reproduktion und der Reproduzierbarkeit des Opferstatus' berührt.

Wir können uns der objektiven Wahrheit des Opferbegriffs mit der von den meisten Staaten akzeptierten Perspektive der Menschenrechte stellen (alle Staaten der Erde haben zumindest einen der Menschenrechtspakte unterzeichnet). Wolfgang Sachs schlägt vor, die 1948 verfasste Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen als gemeinsame (moralische) Grundordnung der Weltgesellschaft endlich ernster zu nehmen. Auch wenn die globale Bevölkerung damit natürlich noch keinen staatlichen Rahmen hat, verfügte sie doch über eine Verfassung.9
Ich möchte die ersten drei Artikel der Charta auszugsweise hier zitieren:
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ (Artikel 1)
„Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.“ (Artikel 2)
„Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“ (Artikel 3)10

Dagegen stehen schon die teilweise katastrophalen menschenrechtlichen Gegebenheiten in vielen Schwellen- und Dritte Welt Ländern, wo Menschen der Willkür und Egozentrik von Diktatoren und Elitisten zum Opfer fallen bzw. ausgeliefert sind. Oft genug geht dem eine lange Geschichte der kolonialen Ausbeutung oder der geografischen Unglückslage voraus. Der Opferstatus der Menschen ist ihnen häufig tief ankonditioniert und indoktriniert, Bildungs- und Erkenntnischancen möglicher Optionalitäten nicht bis kaum gegeben.

Dem gegenüber betreiben wir, die wir in relativer Bequemlichkeit und Wohlstand leben, Schmerzvermeidung, wo immer möglich. So sind immer weniger Menschen dieses Landes bereit, sich freiwillig tiefergehend mit negativen Schlagzeilen zu beschäftigen, mit unangenehmen Tatsachen, mit Kriegen und ihren Hintergründen, mit Ungerechtigkeiten der Weltlage, mit den haarsträubenden Lebensverhältnissen der globalen Armen, ihren täglichen Überlebenskämpfen. Die Wenigsten interessieren sich für die Unzähligen, die unter Qualen und in Anonymität zugrunde gehen. Wir sind schon mit jenen überfordert, die bei uns anklopfen, geschweige denn, dass wir uns mit den außerhalb unseres Gesichtskreises stattfindenden Grausamkeiten der Welt beschäftigen. „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß,“ denkt ein westlicher Workaholic erschöpft – und vielleicht nicht einmal in bewusster Ignoranz. „Ich kann mich nicht um alles kümmern.“ „Was geht mich deren Sterben an? Pech gehabt.“ Schlimmstenfalls: „Selber schuld.“ Diese umfassende, zunehmende Erfahrungsblindheit (Thierry Labica) ist ursächlich mitverantwortlich für die Aufrechterhaltung und Reproduktion der Opfer dieser Welt.

Mag der Diskurs vieler Sozialwissenschaftler, Ethnologen, Umwelthistoriker, Anthropologen und Klimatologen davon geprägt sein, dass der globale Süden aufgrund seiner klimatischen Verhältnisse und der kolonialen Vergangenheit schwierige Lebensumstände verursacht – dass Kolonialismus und Imperialismus, die Ausbeutung von Bodenschätzen und Menschen, ihrer Arbeitskraft und ihrer Körper, ihre jahrhundertelange Unterjochung infolge behaupteter Inferiorität –, dass das alles und noch mehr existierte und existiert und in Tausenden von Köpfen gewälzt und analysiert wird. Der Otto-Normal-Bürger der „zivilisierten“ Welt, der oder die eine unter Millionen, der oder die mit der Aufgabe der Aufrechterhaltung seiner „convenience“, seiner Schmerzvermeidung und seines Wohlstands (mag er auch durchaus erkämpft sein) voll ausgelastet ist, wage ich zu behaupten, weiß es jedenfalls nicht (und möchte es auch nicht unbedingt wissen).

An sich nicht einmal so unerwartet, möchte ich meinen: Ideale der Menschlichkeit und der (religionsübergreifenden) „Nächstenliebe“ müssen gepflegt und „warmgehalten“ werden, auch in Zeiten des Friedens und der wirtschaftlichen Blüte, und nicht erst in Krisenzeiten, wenn sie als Basis des kommunikativen und subsidiären Umgangs miteinander funktionieren sollten. Sie müssen immer wieder herausgeholt und grundlegend diskutiert werden. Moralische Werte der „Nächstenliebe“ und Verteilungsgerechtigkeit haben oft genug das evolutionäre Fortkommen der Menschheit und ihre zivilisatorischen Errungenschaften gesichert11, sie müssten kontinuierlich in den sich ändernden wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten exerziert und aktualisiert werden, ohne ihre moralischen Kerninhalte einzubüßen.

Die Bewusstwerdung des Elends dieser Welt und ihrer aktuellen (und bestenfalls auch historischen) Grausamkeit ist das sine qua non eines gelingenden, moralisch verantwortungsvollen Lebens. Das wusste neben Schumacher auch schon Schopenhauer, der auf den Reisen, die er unternahm, Zeuge von Hinrichtungen und Unrecht geworden war. Er ist es zudem, der erklärt: „Mitleid [ist] die eigentliche moralische Triebfeder.“12 In seiner Einleitung zu Schopenhauers „Metaphysik der Sitten“ fasst Volker Spierling Mitleid in Schopenhauers Verständnis so: „Das Mitleid, das die ganze Welt umfassen kann, verneint den egoistischen Willen, der das Leiden schafft.“13

Über die vielen hier angeführten Aspekte ließe sich sicher streiten. Für einen Streit müsste jedoch die Moral- und Wertediskussion wieder ins öffentliche Bewusstsein geraten, das nach wie vor von utilitaristischen, finanziellen und materiellen Fragestellungen besetzt und dominiert wird. Was etwas kostet, scheint immer noch wichtiger zu sein, als was und wie jeder und jede Einzelne einmal gelebt haben will – in diesem doch für jede und jeden einmaligen Dasein.

Unsere Zeit hat sich auf die Fahnen geschrieben, bewusstes Entscheiden, Ermächtigung sowie die Suche nach Wahrheit und ihren Existenzbedingungen schon seit Längerem nicht besonders zu fördern (das ist ungefähr seit dem umfassenden Siegeszug des Kapitalismus in alle Seinsbereiche die vorherrschende Mentalität):
In den wirtschaftlich starken (westlichen) Staaten wird objektives Entscheiden von der Überbetonung einer moralisch undifferenzierten Vielfalt der Meinungen bzw. einem im common sense vorherrschenden Relativismus bedroht oder kleingeredet – also von der Einstellung, dass keine oder kaum eine Verständigung zwischen verschiedenen Standpunkten wirklich möglich ist, bzw. dass die Wahrheit vom Standpunkt des Betrachters abhängt, es also keine objektive Wahrheit gibt.

In unserer Zeit gewinnt dann eine solche Auseinandersetzung der Mächtigste, Reichste, Eloquenteste etc. Der, der am meisten Marketing macht, sich am besten verkauft, dessen „Scheinen“ am meisten überzeugt. „Relativismus“ verschiebt jede redliche, an objektiver Wahrheit und Toleranz orientierte Diskussion in die Gefilde des Scheinens, Glaubens und Überzeugtwerdens, und entwertet so demokratische Prozesse und politische Arbeit. Darüber hinaus kann Relativismus für die Opfer ungerechter Verhältnisse ein Problem darstellen, weil er die Opferperspektive relativiert, sprich: kleinredet.

Doch es gibt durchaus Standpunkte gegen die zeitgenössische Überdominanz des Relativismus: Alle, die ihre Hoffnung auf ein weltweites Leben in Frieden und Eintracht, auf Diskussionen, Kommunikationsakte und Verhandlungen, nicht nur einmalige, sondern wiederholte Bemühungen zur Verständigung setzen, stehen dagegen an. Ihre Suche gilt immer noch der Wahrheit, die laut Popper objektiv existiert, auch wenn wir (bislang) keine Kriterien zu ihrer Festschreibung haben14.

Von Popper und seiner undogmatischen Überzeugung, dass Diskussionen Andersdenkender umso mehr bringen, je weniger man in der Ausgangslage gemeinsam hat (denn dann könne man umso mehr lernen, sowohl was die eigene als auch was die fremde Ansicht angeht), kann auch unser Umgang mit der gegenwärtig hohen Zahl an Einwanderern profitieren. Es geht, so Popper, nicht darum, recht zu haben und zu behalten, sondern der objektiven Wahrheit näher zu kommen. Für die Suche nach der objektiven Wahrheit der vertriebenen und hier anstrandenen Menschen muss Geld in die Hand genommen werden, wenn es denn Geld braucht, um die nötigen Erkenntnisse zu erwerben und zu handeln, und den Menschen, um die es geht, Milde, (Gast-)Freundschaft und Interesse, wenn schon nicht Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ja, es geht um große Begriffe, aber wenn wir sie scheuen, kapitulieren wir nur vor dem Kleinklein der Bürokratie und dem hündisch machenden Wirkungshabitus des Finanziellen, von dem wir denken, dass es allein Möglichkeiten eröffnet.

Dieser Glaube lässt uns auch meines Erachtens nun erneut fehlgehen: Bereits in ihren eigenen Ländern zu Opfern gemachte Menschen, deren Existenz in ihrem Zuhause keine Berechtigung finden konnte und kann, sodass sie sich auf einen unsicheren und gefahrvollen Weg zur Rettung der eigenen Haut machen mussten, werden von europäischen Ländern, die auf dem Weg oder auf der Zielgerade der Flüchtlinge liegen, durch Ausgrenzungs- und Abriegelungstaktiken erneut viktimisiert. Ihnen wird bedeutet: „Wir wollen euch hier nicht. Uns ist egal, wie es euch dort ergeht, woher ihr geflohen seid. Ihr habt nichts, was ihr uns bieten könnt, was uns interessieren könnte. Geht uns aus den Augen!“ Hier, wie in sozialen Beziehungen überhaupt, gilt es, Kleinherzigkeit und Berechnung abzulegen. Wir müssen gesamt-, ja weltgesellschaftlich zu der moralischen (keineswegs nur religiös begründbaren) Erkenntnis gelangen, dass man im Menschen nicht interessengeleitete Manövriermasse15, sondern „ein Wesen betrachtet, das Transzendenz und Überwindung ist“16.

Eine solche Perspektive würde Möglichkeiten und Menschen wieder sichtbar machen.

Fußnoten:

[1] "Opfer nicht zu Wahlkampfzwecken missbrauchen". In: Die Welt, 27.01.2016. http://www.welt.de/151545842
[2] Kriminologie-Lexikon ONLINE: Opfer. http://www.krimlex.de/artikel.php?BUCHSTABE=&KL_ID=130
[3] Metzler Lexikon Philosophie: Liberum arbitrium. https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/liberum-arbitrium/1217
[4] Ernst Friedrich Schumacher. Small is beautiful. Die Rückkehr zum menschlichen Maß. Neuauflage. München. oekom, 2013.
[5] Siehe z. B. Micha Hilgers: "Missbrauch und stille Mitwisserschaft". In: Universitas #768, 65. Jahrgang, Juni 2010, S. 555-569.
[6] Interview mit Klaus Podak, 1974. Zitiert in SZ, 27.07.2002.
[7] Wikipedia: Opfer. https://de.wikipedia.org/wiki/Opfer_(Schimpfwort)
[8] Simone de Beauvoir. Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek bei Hamburg. Rowohlt, 1977.
[9] Wolfgang Sachs. Gastrecht für alle. Über ein minimales kosmopolitisches Leitbild. In: Wir wir überlegen! Ernährung und Energie in Zeiten des Klimawandels. Hrsg. von Petra C. Gruber. Opladen & Farmington Hills. Verlag Barbara Budrich, 2010.
[10] Vereinte Nationen: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 10.12.1948. http://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf
[11] Siehe dazu auch die Arbeit von Elinor Ostrom zur Lösung lokaler Allmendeprobleme.
[12] Arthur Schopenhauer. Die Welt als Wille und Vorstellung und Die beiden Grundprobleme der Ethik.
[13] Arthur Schopenhauer. Metaphysik der Sitten. Einleitung von Volker Spierling: Erkenntnis und Ethik. S. 27.
[14] Karl Popper. Alles ist nur Vermutung. Vorträge und Gespräche aus den Jahren 1974-1992 und Die Offene Gesellschaft und Ihre Feinde.
[15] Wolfgang Sachs. Gfa.
[16] Simone de Beauvoir. DaG.