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Da ich nicht hier aufgewachsen bin, brauche ich sehr lange, um mein eigenes Selektionsmuster zu (er)finden.
Die Multioptionalität, von der heute so oft die Rede ist: Sie ist gewaltiger, überwältigender, wenn man, wie ich, aus einem kleinen, geradezu verheimlichten Dorf im siebenbürgischen Rumänien stammt, wo die dringlichsten Angelegenheiten solche der Existenzsicherung und des reziproken Miteinanders der Dorfgemeinschaft waren.

Heute und hier, in einer wohlgestellten, vielleicht auch übersättigten und gelangweilten (Münchener) Gesellschaft geht es, wie der Soziologe Hartmut Rosa (HR) so treffend formuliert, darum, „Welt in Reichweite zu bringen“. Verfügbarkeiten zu kreieren, abseits von Überlebenssicherung, letztlich also um Verfügungsmacht. Hat man sich eine Sache verfügbar gemacht, strebt man schon nach der nächsten. Denn nichts ist langweiliger als ein befriedigtes Bedürfnis.

Der „Zwang zur Selbstüberschreitung“ sei absolut gesetzt, so Rosa, jedoch führe er letztlich zur Lebensmüdigkeit. Denn die Ergebnisse dieser unaufhörlichen Beschleunigung und Raserei können zwar (noch) beliebig reproduziert bzw. vermehrt werden, doch fehlt den Menschen die Zeit, sich eingehend mit ihnen zu beschäftigen. 

Das Resultat: gefühlte Überforderung, ein rasendes Lebenstempo und Frust durch „Gegenwartsschrumpfung“ (Rosa), weil die Verweildauer fehlt und Empfindungstiefe dadurch unmöglich wird.

Mit aufgerissenen Augen hasten viele junge Leute von heute durchs Leben, viele leiden an Zerstreutheut, Ablenkbarkeit und leicht auszulösender Hektik. Alles in sich aufnehmen zu wollen, damit einem nichts oder möglichst wenig entgeht, führt, wenn man sein kritisches Denken am Zugaufstieg abgibt, dazu, dass man aus dem fahrenden Abteil blickt und überall gerne aussteigen will. Es jedoch nicht vermag, denn der nächste Eindruck könnte ja der lohnendere sein, die nächste Station die vielversprechendere. Nur Potenziale anzuhäufen und keins zur Realität zu entfalten (was Hinwendung und Zeitopfer bedeutete) lässt einen am Leben vorbeirasen und im „Was wäre wenn“ verharren, statt im manchmal vielleicht etwas „enttäuschenderen“ Ist.

Doch dieses Ist verschafft uns das authentische Lebensgefühl, das unseren Lebenshunger stillt. „Resonanzerfahrungen“ (Rosa) sind nur in der Gegenwart möglich: Mit anderen Menschen und Lebewesen, in der Natur, in Kunst und auch in Religiosität. Etwas bringt eine Seite in mir zum Klingen - so beschreibt Rosa diese Erfahrung. Ich fühle mich angenommen, angekommen, ja: ausgewählt.

Schnell kann man mit solchen Gedanken heutzutage den Stempel der Esoterik riskieren. Dem Soziologen Hartmut Rosa gelingt jedoch eine (sozial)wissenschaftliche Kritik unserer westlichen Gesellschaft, die ihre einstigen Resonanzbeziehungen gegen schnöde Konsumerlebnisse eingetauscht hat: Zu überfordert von der Multioptionalität aber auch zu träge und zu abgestumpft um hinauszuhorchen nach einem lebendig sich artikulierenden Gegenüber, oder zu konsumkompromittiert und verwöhnt von instantaner Wunschbefriedigung um dessen Nichtkäuflichkeit zu akzeptieren und damit hauszuhalten.

Das klingt alles so ziemlich nach dem Gegenteil dessen, was mein siebenbürgisches Dorf für mich bedeutete: Achtsamkeit und Leben mit der Natur und den Menschen und Tieren. Optionsarmut, dafür aber Gegenwartsreichtum. In meinem Freundes- und Bekanntenkreis beobachte ich aber eine wachsende Tendenz zu mehr und zeitlich umfassender Gegenwärtigkeit. Das fehlt mir etwas an HR: Er unterschätzt meines Erachtens die Menschen. Ihre Sehnsucht nach „Resonanzerfahrungen“. Nicht umsonst konnten sich Bewegungen wie die „Transition Town“ schon in über 40 Ländern der Welt etablieren und immer mehr Menschen engagieren sich ehrenamtlich und in NGOs.

Die Gehetztheit, bleibt zu hoffen, wird allmählich wieder einer gesteigerten Aufmerksamkeit, ja Achtsamkeit weichen, die Menschen aus eigener Anstrengung wieder Herren ihrer selbst und ihrer Lebensentwürfe. Denn das bewirkt sie letztlich auch, die Multioptionalität: Sie zerfasert Aufmerksamkeit, sie verlangsamt, ja verhindert vielleicht sogar Prozesse der Spezialisierung, der Vertiefung und Verfeinerung. Doch wirklich: Nur die allerwenigsten von uns sind Universalgenies - der Rest muss nach wie vor seine Nische finden.

Über Zusammenhänge wie diese nachzudenken machen auch ein „gutes Leben“ aus.

Fußnoten:

Die Zitate von Hartmut Rosa entstammen einem Vortrag im Rahmen der Hochschultage an der LMU München im Mai 2014.