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Je mehr ich mich mit literatur- und kunsttheoretischen Positionen beschäftige, desto mehr erkenne ich ihre Wandelbarkeit, ihre historische Bedingtheit, und dass sie dem Grad der Reflektiertheit und der Positionierung des Individuums in menschlicher Gesellschaft und der Welt entsprechen. Der Bogen lässt sich vom mythologisch-hermeneutischen Beginn schlagen bis hin zu einer Welt, die in ihrer erkenntnishaften Erschließung, im Hineinzoomen durch die Wissenschaft und in der Vielfalt der gewonnenen Perspektiven den Menschen vice versa prägt und verändert.

Die Dispositionen, die damit verbunden sind1 und die Position des Individuums inmitten der sich wandelnden Umstände (Bourdieu): Das sind die Faktoren, die eine theoretische Stellungnahme mit verursachen. Und so bleibt am Ende des Tages übrig, dass die stets neue Umkreisung dessen, was Literatur ist, wie ihre Produktion und Rezeption stattfindet, und welcher Status KünstlerInnen und RezipientInnen jeweils zukommt, ein sine qua non ist – weil es die in Stein gehauene Invariante weder in der Kunst selbst, noch in der Theorie, die sich mit ihr beschäftigt, gibt und geben kann. Meine eigene Annäherung ist also auch erst einmal nichts weiter als eine kleine, persönliche Inventur, eine autodidaktische Wiederholung, was die Theorieschreibung zur mir liebsten Kunstform geleistet hat, und ist zugleich (meiner personellen Wirklichkeit und ihren Verstrickungen geschuldet) nur Ausschnitt und begrenztes Sortiment.

Dieser Blogbeitrag dient vor allem Überlegungen, die ich mir zur Relevanz literaturtheoretischer Positionen in der aktuellen, zunehmend populistischen, ja teilweise wissenschaftsfeindlichen Zeit mache. Ich bin davon überzeugt, dass die Beschäftigung mit für die Literatur bedeutungsvollen Theorien in der heute oftmals festgefahrenen Stagnation der Fronten, dem meist als „Ringen“ bezeichneten diskursiven Schlagabtausch in Politik und Öffentlichkeit, nur Gutes bringen kann; ja ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, sie kann wiederum pragmatisch nutzbar werden und zu einer neuen, ethisch fundierten Gesprächskultur beitragen, indem sie Perspektiven relativiert und Wahrnehmung reicher macht. Denn in Literaturtheorien kommen v.a. die kommunikativen Wissenschaften und die Wissenschaften der menschlichen Erkenntnis zu Wort, z.B. Soziologie, Psychologie, Sprachwissenschaft, Geschichtswissenschaft und Philosophie. Sie beschäftigen sich mit Material, Medien, Akteuren und Kontexten menschlicher Kommunikation und erkunden dabei durch historische, strukturelle und semantische Auswertungen, wann und wie diese funktioniert hat und funktioniert. Dabei kommt ihnen ein weit höherer Allgemeinheitsgrad zu, als Interpretationen, die sich jeweils mit einem einzigen Text befassen.2

Ein Plädoyer für mehr Theorie

Ich beginne mit einer kurzen Rechtfertigung der Theorie selbst. Wir können den hohen Reflektiertheitsgrad gerade moderner Kunst und Literatur selbstverständlich schon lange nicht mehr leugnen. Je tiefer das menschliche Denken vorzudringen im Stande ist, desto höher reicht auch sein Abstraktionsniveau (so sieht beispielsweise der Medientheoretiker Villém Flusser die Menschheitsentwicklung als Geschichte der Abstraktion, der Entfernung des Menschen vom Konkreten an). Wir können gesamtmenschheitlich (und es tut mir nicht leid, Anhänger der Vereinfachungspropaganda zu enttäuschen) nicht mehr in eine Zeit zurück, die die Theorie und das gewonnene Abstraktionsniveau leugnet. In Susan Sontags Worten: „Niemand von uns kann jemals jenen Stand der Unschuld vor aller Theorie wiedererlangen, da die Kunst noch nicht die Notwendigkeit der Selbstrechtfertigung kannte, da man nicht danach fragte, was ein Kunstwerk aussagte, weil man wußte (sic) (oder zu wissen glaubte), was es bewirkte.“3 Auf so einen „common sense“ der Interpretation kann man sich schon lange außerhalb der Nachmittagsteekränzchen-Lesekreise und Spiegel-Bestsellerlisten nicht mehr berufen. Davon zeugen nicht zuletzt die „Kontroversen und Eklats in der deutschen Literatur“ der letzten Jahrzehnte (Robert Weninger). Theorien haben in ihrem näherungsweisen Herantasten an die Sujets, erschaffenden Menschen und Seinsweisen von Literatur (und Kunst) komplexe Entwicklungen vollzogen und selbst wiederum die Entstehung von Literatur (und Kunst) beeinflusst.

Der Philosoph Lyotard verweist auf die fehlende Verkäuflichkeit weitreichender, komplexer Theorien im heutigen, nach wie vor von kurzfristigem Nützlichkeitsdenken und sofortiger Bedürfnisbefriedigung geprägten Wirtschafts- und Gesellschaftssystem und auf die scheinbare Geringschätzung einer vorhandenen Bereitschaft, sich mit Theorien auseinanderzusetzen:

„Diejenigen, die es ablehnen, die Regeln der Kunst zu hinterfragen, machen Karriere dank des Konformismus der Massen, indem sie vermittels der 'guten Regeln' dem endemischen Verlangen nach Realität Objekte und Situationen liefern, die diese zu befriedigen vermögen. Pornographie macht von Photo und Film zu diesem Zweck Gebrauch. Sie wird zum allgemeinen Vorbild für Bild- und Erzählkunst, wenn diese es unterlässt, sich der Herausforderung durch die Massenmedien zu stellen. Jene Schriftsteller und Künstler aber, die akzeptieren, die Regeln der plastischen und narrativen Künste in Zweifel zu ziehen und ihren Verdacht, indem sie ihre Werke zugänglich machen, eventuell mit anderen zu teilen, müssen damit rechnen, daß sie dem Amateur, der einer Realität und Identität bedürftig ist, nicht glaubwürdig sind; sie sind ohne Gewähr des Publikums.“4

Ernstzunehmende Künstler und Literaten, die eine Beschäftigung mit den „Regeln der Kunst“ und ihrer Hinterfragung, die also eine Auseinandersetzung mit der Theorie nicht außer Acht lassen, müssen häufig auf den Beifall des (breiten) Publikums verzichten – daran hat sich auch heute kaum etwas geändert. Doch sind reflektierte ästhetische Kriterien unverzichtbar. Denn fehlen diese, bleiben oft nur Nutzenkalkül und Erbaulichkeitsrhetorik. Lyotard spricht von einem „Realismus der Beliebigkeit“, der mit dem Realismus des Geldes deckungsgleich ist:

„In Ermangelung ästhetischer Kriterien ist es möglich und nutzbringend, den Wert der Werke am Profit zu messen, den sie erbringen. Dieser Realismus paßt sich allen Tendenzen an, wie das Kapital, das sich allen »Bedürfnissen« anpaßt, unter der alleinigen Voraussetzung, daß Tendenzen und Bedürfnisse über die nötige Kaufkraft verfügen. Und was den Geschmack anbelangt, so bedarf es keines Feingefühls, wenn man spekuliert oder sich zerstreuen will. Künstlerische und literarische Suche ist in doppelter Weise bedroht, einmal durch »Kulturpolitik« und dann durch den Kunst- und Buchmarkt. Bald wird ihr vom einen, bald vom andern Kanal empfohlen, Werke zu liefern, die erstens den Themen entsprechen, die in den Augen des Publikums existieren, für das sie bestimmt sind, und zweitens in einer Weise gefügt (»wohl geformt«) sind, daß (sic) dieses Publikum in ihnen erkennt, um was es sich handelt, und versteht, was sie bedeuten; ihnen, da es glaubt, Bescheid zu wissen, zustimmen oder seinen Beifall vorenthalten kann; und zuletzt aus Werken, die es billigt, noch Stärkung und Trost zu ziehen vermag.“5

Dem Unterhaltungssinn eines kaufkräftigen Publikums entgegenzukommen ist damit genauso anbiedernd und dem evolutionären Stand von Kunst wenig gemäß, wie allzu bereitwillig einer interpretativen Erwartungshaltung zu entsprechen.
Sontag und Lyotard betonen beide den Primat der Form über den des Inhalts. Während die Kunst für Lyotard aufgrund einer destabilisierten Wirklichkeit nur noch mit Erkundung und Experiment reagieren kann, wirft Sontag der Interpretation vor, unnötige (inhaltliche) Übersetzungen und Duplikate zu produzieren und damit unser Empfindungsvermögen zuzumüllen und zu „vergiften“. Sie mahnt „ein verstärktes Interesse für die Form in der Kunst“6 an, und plädiert für eine „Erotik der Kunst“, worin sie einen Gegenbegriff zur Hermeneutik gesetzt sieht: „Die Funktion der Kritik sollte darin bestehen aufzuzeigen, wie die Phänomene beschaffen sind, ja selbst, daß (sic) sie existieren, aber nicht darin, sie zu deuten.“7

Kann die Literaturtheorie es leisten, zu zeigen, dass bzw. wie die Phänomene sind? Und was bleibt relevant aus den Jahrhunderte hindurch sich wandelnden und abwechselnden Theorien? Fragen, in deren Gravitation die Geschichte der Literaturtheorie eine Rolle spielt und einzelne Theorien untersucht werden müssten. Das wird, mal mehr, mal weniger an den Universitäten praktiziert, zuweilen durchaus mit Widerwillen, wie ich während meines eigenen Studiums und zuletzt in der Diskussion Mülder-Bach/Reemtsma erfuhr (siehe Blogeintrag Literatur I). Eine kleine Wiederholung tut Not. Natürlich kann das an dieser Stelle nur oberflächlich bleiben und auf subjektive Art ungenügend: Weder tauche ich tiefer in einzelne Theorien ein, noch erweitere ich den Fokus auf mehr, als das in meinem eigenen Studium der Germanistik verhandelte – vorwiegend eurozentristische Perspektiven und Systeme der Literaturtheorie. Ich muss mich mit einer kleinen Wiederholung der Hauptströmungen8 begnügen, an die einige (philosophische) Gedanken anschließen.

Im Fokus liegt das Potenzial: eine kleine Rückschau

Während zu antiken Zeiten Kunst noch gesetzten Norminstanzen zu gehorchen hatte (analog zu den bekannten Forderungen des Horaz „prodesse et delectare“ – die Kunst sollte nutzen, unterhalten, oder beides), die bis über das 17. Jh. hinaus noch galten, verschafft sich im 18. Jh. die Autonomie des Dichters ein Recht, der ab jetzt selbst entscheidet, was gut und schlecht, richtig und falsch ist. Und seit der Aufklärung steht die ästhetische Dimension eines Textes im Vordergrund, nicht mehr seine Botschaft. Doch die machtvollste und über die Jahrhunderte einflussreichste Position kommt zweifelsohne der Hermeneutik zu – die zugleich als älteste auch die meisten Streits und Neuauflagen mitmachte. Hermeneutik ist die Wissenschaft vom Verstehen: eines inhaltlichen Verstehens von Sinn, nicht von Zweck. Hermeneutische Verstehensprozesse beziehen sich (auch) auf menschengemachte Äußerungen und sowohl auf elementare, alltägliche Kommunikation wie auf höhere Sinnzusammenhänge. In protestantischen Zeiten ist noch dogmatisch von angemessenem und sinnvollem Interpretieren eines Textes die Rede, und bis ins 18./19. Jh. gilt „sola scriptura“ (einzig die Schrift); doch schon im 19. Jh. wird die Hermeneutik zu einem Vorgehen der Umkehrung literarischer Produktion, zur negativen Poetik/Rhetorik. Schleiermacher ist es, der schließlich die zweischneidige Interpretationspraxis einläutet („hermeneutische Wende“): Es werden die grammatikalisch-syntaktisch-semantische Ebene des Textes sowie die psychologisch-technische des Autors untersucht.
„Neohermeneuten“ wie Heidegger, Gadamer und Ricoeur sprengen die Enge des hermeneutischen Ansatzes endgültig: Heidegger weitet den Brennpunkt der hermeneutischen Aufmerksamkeit auf das menschliche Dasein als Ganzes aus, Gadamer träumt idealistisch von einer „Horizontverschmelzung“ über historische und kulturelle Grenzen hinweg, und Ricoeur umgeht sogar das „hermeneutische Vorurteil“ eines stets hineingelegten Sinns, über das sich noch Habermas und Gadamer in den 60ern streiten, und gelangt im Rückgriff auf Aristoteles' Mimesis und Poiesis zu einem je nach Zusammenhang veränderten Text und Sinn.
Andere Lektüreverfahren entwickeln sich, nicht zuletzt deshalb, weil die avantgardistischen -ismen (Surrealismus, Dadaismus, Expressionismus u.a.) sich einem hermeneutischen Interpretationszugang widersetzen. Um den vielen Ebenen eines Textes gerecht werden zu können, werden immer weitere Aspekte untersucht und Verfahren entwickelt: linguistische und rhetorische, historische und soziologische.

Hegel bestimmt im 19 Jh. zum ersten Mal das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft systematisch (in seiner Ästhetik). Einerseits möchte er den historisch-gesellschaftlichen Ort der Kunst aufspüren, andererseits ihre formal-inhaltliche Beziehung untersuchen, die beide aus dem Kunstwerk eine Totalität machen. Auf dem Weg des Geistes durch die Welt der Erscheinungen ist Kunst für Hegel jedoch nur eine Vorstufe zur höheren Erkenntnisform der Philosophie. Sie reflektiert historische Prozesse. Die materialistische Kunst und Literaturbetrachtung von Marx und Engels (später auch Lenin) lässt zwar die Basis gelten (dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein des Menschen prägt und nicht umgekehrt), doch wird hier die Kunst meist auf einen ideologischen Reflex reduziert: Sie reflektiert die Beziehung zwischen den (materiell und geistig) produzierenden Menschen und den gegebenen Produktionsverhältnissen.
Georg Lucács verleiht dem Realismus ästhetischen und ideologischen Rang: Indem er den Begriff des Realismus differenziert, gelangt er zu einem normativ-ästhetischen Verständnis, löst seinen Realismus jedoch letztlich von dessen gesellschaftlichen und geschichtlichen Voraussetzungen. Gramsci dagegen fordert, dass die herrschende Kultur kritisch betrachtet werde, womit in der kulturellen Praxis Partei ergriffen werden muss und diese Praxis grundsätzlich aktiv zu sein hat. Damit weist er auf die kritische Theorie (v.a.) Benjamins voraus. In der neuen soziologischen Schule schließlich operiert Bourdieu mit der Theorie des „literarischen Feldes“, in dem eine autonome logische Ordnung herrscht, die sich der ökonomischen, gesellschaftlichen Ordnung und ihren Institutionen entzieht bzw. widersetzt.

Die kritische Theorie politisiert mit ihren ideologiekritischen Ansätzen weiter die Kultur. Benjamin betrachtet die Konsequenzen der technischen Entwicklung kritisch: Sie produziere Widersprüche, die sich auf Wirtschaft und städtische Gesellschaft auswirke. In seiner Geschichtsphilosophie wird das historisch nichtbewusste Wissen zum prägenden Faktor in der bewussten Wahrnehmung der zeitgenössischen Gegenwart. Der geschichtliche Prozess wirke sich aber nicht nur, wie im Materialismus hochgehalten, auf Literatur und Kunst aus, sondern auch umgekehrt. Das Bewusstsein von den Krisen der Moderne, die kritische Reflexion ermöglichen die Subversion des Bestehenden. Schon im ersten Blogbeitrag zum Thema Literatur (I: Interpretation) habe ich Adornos Perspektive viel Raum gegeben: Seine Aufkündigung aller normativen und/oder eindeutigen Perspektiven führen zur „bestimmten Negation“ und zum utopischen „all das, was nicht der Fall ist“. Im Individualismus der Kunst (Adorno spricht von der „einsamen Rede“) äußert sich die ästhetische Erfahrung als Korrektiv des identifizierenden und das Wirkliche affirmierenden Denkens. Weder philosophische Reflexion noch praktische Vernunft haben Adorno zufolge in der Moderne die Möglichkeiten der Kunst. Dagegen verfasst Habermas seine „Theorie des kommunikativen Handelns“, in der in sprachlich vermittelter, kritischer Rationalität die Kraft zur Veränderung liegt. Der auf Intersubjektivität und Handlungsaufforderung zielende Sprachgebrauch und das damit einhergehende Selbstverständnis manifestieren und vollziehen sich in der Literatur (und Geisteswissenschaft) – innerhalb kultureller Überlieferungen, deren Wissen kritisch-hermeneutisch zu erschließen ist.

Im hermeneutischen Sinne interpretierbar wird für die Literatur und ihre Produktion mit Freud auch das Unbewusste: Während eine Balance zwischen sozialem Druck und Realitätsprüfungsinstanz des menschlichen Ich sowie seinem Unbewussten zu Angepasstheit und „Normalität“ führt, kann deren Störung im „realitätsfernen Raum“ zur kreativ-ästhetischen Aktivität beitragen, ja gar den erfolgreichen Künstler ausmachen. Laut Freud entspricht die poetische Produktion dem Tagtraum und ist einzig auf persönlichen, narzisstischen Lustgewinn aus. Im Rahmen der Traumdeutung will Freud den „latenten Trauminhalt“ hinter dem „manifesten“ aufspüren. Wieder scheint eine hermeneutische Lektüre unumgänglich. Sie wird bereichert durch die Rekonstruktion des Kontextes sowie die Historie und Gegenwart des Träumers. In den 40ern beginnt Lacan die Rolle der Sprache in der Psychogenese zu reflektieren. Das die Sprache erlernende Kind nimmt die von Sozialisierungsinstanzen gesetzte Ordnung auf: Während die Sprache die Einpassung in vorgefundene Gesetze und Normen ermöglicht und erzwingt, ist sie zugleich Medium der Selbstentdeckung. Allerdings lässt sie keinen direkten Raum für das Individuelle des Subjekts. So muss dieses sein Unbewusstes ausbilden, das wiederum durch „uneigentliche Rede“ zur Sprache kommt. Das Unbewusste verweist auf etwas, das sich vor den Zwängen der Normierungs- und Sozialisierungsinstanzen (und damit auch vor dem Klischee) retten konnte – das ewig sich einer Festlegung Entziehende, das per se die gesetzte Ordnung unterläuft und unangepasst bleibt. Wenn auch vieles, was von Freud stammt, im Märchenland zu Hause ist: Das Unbewusste hat seinen Platz im Unantastbarkeitstopos des Menschen. Für die Textanalyse bedeutet das eine doppelte Ausgangssituation: Der vorgefundene Text ist Oberfläche, Sprache, die sich den gesellschaftlichen Zwängen assimiliert hat. Ihm ist ein „geheimer Text“ eingeschrieben, der sich an den Wünschen des Ur-Ich orientiert und sich im Spiel der Sprachzeichen (Signifikanten) nur in transitorischen Bedeutungszuweisungen festmachen lässt.

So ist der Anschluss an Strukturalismus und Semiotik fast geschmeidig. Die an ihren Archegeten Ferdinand de Saussure anknüpfende Theorie der Zeichen versucht die Grundmuster und formalisierten Strukturen von Texten aufzudecken. Die sozial und in ihrer kommunikativen Nützlichkeit festgelegte Sprache (langue) unterliegt allgemeinen Gesetzen und Funktionsregeln. Indem die linguistische Forschung diese analysiert, macht sie auch das individuelle Sprechen (parole) analysierbar, das keineswegs als natürlich zu verstehen ist. Gesellschaftliche Konventionen regeln die Beziehungsgeflechte zwischen Signifikant und Signifikat. Erst die Differenz von Zeichen untereinander, die gegebene formale Ordnung der Zeichen schafft Bedeutungen. Die strukturalistische Analyse versucht ein Modell dieser Beziehungen zu erstellen, also die Beziehung zwischen den Elementen zu rekonstruieren, und die Geschichte als eine Geschichte der Formen zu lesen. Laut Barthes ist ein solches Verfahren das des Segmentierens, Vergleichens und Klassifizierens, und es deckt Vieldeutigkeit auf, ohne eine Bedeutung festzulegen. In der Literatur (wie auch in der Realität) herrschen laut Barthes Offenheit und Vieldeutigkeit, der man sich durch Analyse nähern kann. Dabei wird die sprachliche Äußerung eines Individuums immer allgemeinen Gesetzen unterstellt bzw. auf diese zurückgeführt. Es geht um den „Architext“, das Gros der Kategorien, auf die Genette zufolge jeder Text zurückgreift. Genette bezeichnet die Strukturen als „latentes Gerüst“ eines Textes, als „Prinzip objektiver Intelligibilität“.
Während die Theorie de Saussures auch in der Geschichtswissenschaft, Philosophie und Ethnologie Anwendung findet, differenzieren Semiotiker wie Peirce und Umberto Eco eine Vielzahl an unterschiedlichen Zeichensystemen: So lassen sich Instrumentarien einzelner Kommunikationsprozesse und Klassifizierungen erstellen und gesellschaftliche Systeme von einander abgrenzen (z.B. Medizin, Musik, Massenkommunikation u.a.). Die ideologiekritische Funktion einer Aufdeckung zugrundeliegender, verborgener Strukturen und partikularer Ordnungsprinzipien ist dabei nicht zu vernachlässigen, da Kommunikation mit ihren Stereotypen letztlich die gesellschaftliche Organisation und Ordnung konstituiert bzw. bedingt.

In den 60ern und 70ern erreicht das Interesse an rhetorischen Organisationssystemen, institutionellen und medialen Bedingungen seinen Höhepunkt. Foucault definiert die so auszumachenden Diskurse als „Redeweisen“ von „sozialen Klassen und Berufsständen, Generationen, Epochen, literarischen Gattungen, wissenschaftlichen Disziplinen und spezifischen sozialen oder kulturellen Milieus“9, zählt aber auch nichtsprachliche dazu (Bereiche, in denen mit Symbolisationen gearbeitet wird, wie Mode, Architektur u.a.). Diskurse bestimmen, was wahr und was falsch ist, was als gesund oder krank gilt, was als verrückt oder normal. In letzter Instanz legen sie fest, was aus- und was eingeschlossen wird und sind somit Manifestation von Macht. Ihre Omnipotenz lässt jegliche andere Autonomie verblassen: auch die Autonomie des Individuums oder des schöpferischen Künstlers. Foucault spricht in diesem Zusammenhang vom „Tod des Autors“ (den auch Barthes aufgrund einer Höhergewichtung des Rezeptionsvorgangs bereits diagnostiziert hatte). Doch der literarische Diskurs kann, so die Überzeugung, alle anderen Diskurse in sich aufnehmen und scheint „immer eine Verarbeitung, Umstellung und Neubestimmung zeitgenössischer oder historischer Diskurse zu sein.“10 Erst gegen Ende seines Lebens beginnt Foucault damit, Auswege der Individuen aus ihrer Überdeterminiertheit zu skizzieren, ein Projekt, das leider nicht mehr zu Ende gebracht werden kann.
In den 80ern berufen sich neue amerikanische Tendenzen um den New Historicism explizit auf Foucault. Stephen Greenblatt, einer ihrer Hauptvertreter, argumentiert, die Geschichte sei selbst nur ein Text, das Ergebnis zeitgeschichtlicher diskursiver Praktiken. Ihm geht es um „cultural poetics“, die Aneignung solcher Praktiken und ihre Transformation durch die Kunst, denn die „neue, multi-nationale Welt“, die er ausmacht, hält Schrecken bereit: Sie ist „eine Welt voll Intensitäten, statt Emotionen, beschriebener Oberflächen statt versteckter Tiefen, beliebiger, nicht lesbarer Zeichen, statt Signifikanten.“11 Bis heute haben die Forderungen nach Selbstermächtigung und „diskursiver Inklusion“ in den Wortmeldungen disziplinübergreifender Weltverbesserer (aktuell u.a. Lessenich, Opielka) nichts an Nachdruck eingebüßt.

Schon Greenberg hatte die Vielstimmigkeit und die Vielfalt von Texten beschworen und wollte diese nicht auf feststehende Strukturen reduzieren. Im Dekonstruktivismus kommt es schließlich zu einer pluralistischen, vieldeutigen Textlektüre und -analyse. Texte werden nach der Wirklichkeitsfiktion durchsucht, die in ihnen enthalten ist, sowie nach ihren inneren Widersprüchen, die sich unter den Oberflächen unhinterfragter Prämissen und bestehender Ordnungen verbergen. Im Reflektieren der Zeichentheorie de Saussures spürt Derrida ein darin gesetztes ordnungsstiftendes „transzendentales Signifikat“ auf, das am Ende des Verweisungsspiels von Signifikant und Signifikat stehen muss. Er setzt diesem seine „différance“ entgegen: das unendliche, nicht taxinomisch organisierte Spiel der Differenzen. Die „différance“ ist das zwischen den Zeichen (Signifikaten) existierende Verhältnis, das deren Unterscheidung meint und zugleich ihre Bedeutung stets aufschiebt. Anja Köpper erklärt, „Derridas strategische Absicht ist die, sich nicht in den Subjekt-Objekt-Strukturen fangen zu lassen“, er postuliere eine „Ethik der Distanz“12. Laut Derrida gibt es kein der Sprache vorausgehendes Bewusstsein, „keine bestimmte Substanz, ob phonisch oder graphisch, [darf] privilegiert werden“13. Im Dekonstruktivismus werden daher die Voraussetzungen und die Geltung des Logozentrismus, der Identitätsphilosophie und des Strukturalismus kassiert. In der Konsequenz kann auch nicht von einem abgeschlossenen Text die Rede sein: Der Text ist das Ergebnis intertextueller Vorgänge und Transformationen, nicht eines subjektiven, kognitiven Schaffensprozesses. Sinn wird darin gestreut (disseminiert) und nicht gebündelt bzw. festgelegt. Demzufolge kann auch erst eine pluralistische Textanalyse angemessen sein. Derrida operiert mit dem Verfahren der „Pfropfung“, der Zitation von und dem Bezug auf fremde Texte. Für ihn ist das Literarische „der Bereich der größten sprachlichen Freiheit. Unbestimmtheiten und Vieldeutigkeiten führen hier die Struktur des ewigen Aufschubs vor, die jedoch alle Bereiche unserer Welt und ihrer Wirklichkeit bestimmt.“14 Wolfgang Iser schreibt der Literatur als einer „textuellen Reorganisation von Wirklichkeit“ und als Spiel enormes eskapistisches und selbstermächtigendes Potenzial zu: In ihr könne der Leser seine Lebenswirklichkeit für eine gewisse Zeit verlassen. Doch findet der Leser im Text keine feste, alternative Bedeutung vor, nur im rezeptiven Spiel mit der „Supplement-Qualität“ des Textes könne Bedeutung entstehen: „Das Spiel [als Erzeugungsmatrix für Möglichkeiten,] als Oszillation mündet in die Selbstkonstitution des Subjekts.“15

Auch bei Julia Kristeva wird der literarische Rezipient zum Akteur und erstellt Bezüge zu anderen Texten. Verweise solcher Art hat bereits der Autor in den Text gelegt, doch können nicht alle möglichen Verflechtungen Teil seiner Absicht sein. Texte sind daher nie abgeschlossen, sie entstehen erst als kollektive Setzungen und erreichen nie eine endgültige Bezüglichkeit. Im Rückgriff auf Bachtin prägt Kristeva das Konzept der Intertextualität (das Bachtins „Dialogizität“ erweitert), demzufolge alle Texte „Intertexte“ sind. In ihnen entstehen aus vorhandenen Zeichen und Texten neue Ordnungen. Kristeva operiert mit einem umfassenden Textbegriff, der unter Einbeziehung von Gesellschaft, Kultur und Geschichte Literatur- und Kulturkritik möglich macht (eine Überzeugung, die sie mit Derrida teilt). Dagegen verstehen viele andere TheoretikerInnen Intertextualität als rein literarisch (z.B. Stierle, Genette) und wollen die gegebenen Bezüge systematisch analysieren und semiotisch-hermeneutisch deuten. So gibt es bei Karlheinz Stierle einen hinter dem Text stehenden Sachbezug, der interpretiert werden kann, und Genette versucht, ein Ordnungs- und Verteilungsschema für alle Formen der Intertextualität zu erstellen.

Im Schleppnetz der wissenschaftlichen Disziplinen Bio-, Psycho- und Neurologie der 70er- und 80er-Jahre versuchen die führenden Figuren des Konstruktivismus in disziplinübergreifenden Theorien die Entstehung menschlicher Sichtweisen auf Wirklichkeit zu erklären. Systeme wie das menschliche Gehirn oder die menschliche Gesellschaft gelten als geschlossen, selbstorganisiert und selbstbezüglich (Luhmann). Die internen Regeln und Strukturen, nach denen sie funktionieren, die jedoch auch veränderbar und flexibel sind („dynamische Stabilität“), müssen analysiert werden. Es kann jedoch nur untersucht werden, „wie“ Wirklichkeit konstruiert wird, und nicht, „was“ sie ist. „Objektivität wird durch bestimmte Formen der Intersubjektivität ersetzt. Ontologie spielt keine Rolle mehr.“16 Möglicherweise als späte Reaktion auf die quantentheoretischen Erkenntnisse kommt im Konstruktivismus dem Beobachter große Bedeutung zu. H. von Foerster formuliert das Grundprinzip des Konstruktivismus so: „Erfahrung ist die Ursache, die Welt die Folge.“17 Luhmann argumentiert, Kommunikation erzeuge Annahmen von Wahrheit und diese seien nie absolut. Wir leben also in einer Wirklichkeit, „die durch unsere kognitiven und sozialen Aktivitäten bestimmt wird.“18 Die daraus sich ableitende „Empirische Literaturwissenschaft“ ist antihermeneutisch und interdisziplinär zugange und berücksichtigt jeweils gegebene historisch-kulturelle Rahmenbedingungen. Die Kunst gilt als autonom und „als autopoetisches Teilsystem“ innerhalb der modernen Gesellschaft, so Luhmann – sie nimmt also, anders als bei Adorno, keine Position außerhalb bzw. gegenüber der Gesellschaft ein, sondern innerhalb.

Die Gender Studies sind eine logische Ergänzung der Versuche zu eruieren, wie der Mensch seine Wirklichkeit kognitiv gestaltet (Konstruktivismus) oder wie er von herrschenden gesellschaftlichen Diskursen und Strukturen geprägt wird. Anfangs als Ambition verstanden, die gesellschaftliche Emanzipation der Frau voranzutreiben, entwickeln sie sich schnell zum Forschungssammelbecken für Identitäten, die von den gesetzten Standards der Androzentrik (weiß und männlich) abweichen. Als immer wieder existenziell erweist sich der Versuch, die binären Ordnungsgefüge sowie postulierte biologische Attribute in Frage zu stellen. Geschlechterzuweisungen und Frauenbilder werden als historisch bedingt und gesellschaftlich und kulturell konstruiert entlarvt (Shoshana Felman, Judith Butler). Joan W. Scott verlangt nach einer neuen Geschichtsschreibung, die Frauen als essenziell in Prozessen Mitwirkende sichtbar machen soll.
Gegenwärtig untersuchen die Gender Studies die gegenseitige Beeinflussung und Bedingung geschlechtlicher Rollenbilder, beinhalten also auch Men Studies. Was die Literatur angeht, so wurde nach dem verdrängten weiblichen Kanon gesucht, oder nach Unterschieden von männlichem und weiblichen Schreiben. Die „Ecriture feminin“ wurde Luce Irigay, Hélène Cixous und Julia Kristeva zufolge als vom biologischen Geschlecht unabhängig gedacht. In der Literaturwissenschaft interessieren kultur- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte, wobei man Texte unter strukturalistischem Vorzeichen sprachlich-rhetorisch analysiert.

Als durch alle Zeiten hindurch mit einbezogen kann die Medientheorie gelten, die erst im 20. Jh., mit dem Aufkommen der Massenmedien, endgültig zur Grundlagenwissenschaft avanciert. Während Fragen nach der Beeinflussung der Literatur durch Medien, ihrer Position innerhalb des medialen Verbunds, nach der Veränderbarkeit der menschlichen Wahrnehmung durch den Wandel und die Neuerfindung von Medien schon immer eine Rolle spielten, kommen mit der Erfindung von Fotografie und Film Fragen nach der Übersetzbarkeit von Literatur hinzu. Walter Benjamin reflektiert noch die Einwirkung technischer Reproduzierbarkeit auf die Kunst und diagnostiziert die Notwendigkeit neuer Wahrnehmungs- und Rezeptionstechniken, aber auch medial mögliche Demokratisierung und Aufklärung. In der „Dialektik der Aufklärung“ kritisieren Adorno und Horkheimer schon die gewachsene Kultur der Massenmedien, die in ihren Augen zu „Massenbetrug“ und zur „Standardisierung des Blicks“ führt.
Friedrich A. Kittler und Villém Flusser erkennen schließlich der Literatur ihren medialen Sonderstatus ab: Bei ihnen wird die Analyse der Medien zum Schlüssel, um menschliche Weisen des Denkens und Verhaltens zu verstehen. Für Kittler gibt es „kein Jenseits der Medien mehr“, sie sind „das Apriori unseres Verstehens, unserer Wahrnehmung und unseres Denkens“19. Da die jeweils am weitesten verbreiteten Medien das Verstehen bedingen und modifizieren, ist ihr Verstehen wiederum unmöglich. Ein ziemlich entmutigender Ansatz in Zeiten der „alternativen“ oder der „Post-Fakten“, die via sozialer Medien Verbreitung finden.

Fazit

Durch die Geschichte hindurch werden absolutistische Standpunkte immer weiter aufgegeben. Es kommt immer stärker zu der Erkenntnis, dass Perspektiven relativ sind, bzw. nur von vorübergehender Geltungsdauer. Ist bleibende Bedeutung also nicht zu haben? Das jedenfalls gaben und geben uns die vielen Philosophien und Theorien der letzten Jahrzehnte zu verstehen. Bedeutung, Wahrheit kann nur als transitorischer Verweisungszusammenhang gesehen werden, als „kommunikativer Operator“ (Luhmann), und wir müssen uns ihrer Falsifizierbarkeit (Popper) stets bewusst sein. Wissenschaftliche wie soziologische, psychologische, ethnologische, ökonomische und nicht zuletzt literaturtheoretische Positionen sind historisch bedingt und werden vom Zeitgeist und von dem Erkenntnisstand besser entsprechenden Positionen abgelöst. Gerade stehen wir zum Beispiel im Westen an der Schwelle zum Übergang in ein anderes Wirtschaften, zu dem schon seit Jahrzehnten immer mehr Stimmen Alternativen und Überwindungsszenarien skizzieren (natürlich ist dieser Übergang auch eine Frage der Durchsetzungsfähigkeit von Macht).

Mit voranschreitender Entwicklung kann man beobachten, wie die Geltung der Vielfalt und des Anderen, Kontingenz und Übergangscharakter, das Fragmentarische und das Experimentelle immer mehr in den Vordergrund treten, und wie diese zunehmend als unhintergehbare und unwiderlegbare Aspekte des Lebens selbst erscheinen. Wellek und Warren weisen in ihrem Standardwerk „Theorie der Literatur“ darauf hin, dass ein Kunstwerk, da es geschaffen wird, Veränderungen und sogar der Vernichtung ausgesetzt ist, eine dynamische Struktur hat und etwas, „das man als »Leben« bezeichnen könnte. Es entsteht zu einem bestimmten Zeitpunkt, verändert sich im Laufe der Geschichte und kann vernichtet werden.“20 Sie brechen daher einem Perspektivismus den Stab, „in dessen Verlauf wir den Gegenstand von verschiedenen Gesichtspunkten aus kennenlernen, die dann selbst definiert und kritisiert werden können. Struktur, Zeichen und Wert [...] können nicht künstlich voneinander getrennt werden.“21 Man könnte sagen, das Literaturtheorien in ihrer fortschreitenden Inklusion verschiedener Disziplinen der Geistes- wie der Naturwissenschaften Inter- und Transdisziplinarität leben (so sind z.B. die Ergebnisorientierung naturwissenschaftlicher Methoden insgesamt, Erkenntnisse der Quantenphysik, Entwicklungen in der Biologie und in den Neurowissenschaften zu unterschiedlichen Zeiten in literaturtheoretische und natürlich auch andere geisteswissenschaftliche Positionen eingeflossen). „Die Zeit drängt uns immer mehr zur Gesamtstruktur und und zur Herstellung von Querverbindungen“, sagte Marshall McLuhan bereits 1964, Spezialisierung werde mit dem Niedergang des Zeitalters der Mechanisierung untergehen und ein neuer Generalismus werde nötig werden, um die menschliche Informationsüberflutung, die Synchronizität und nicht zuletzt den Jobverlust sinnvoll zu supplementieren, und um leben zu lernen. Nur eine Position von vielen, in der die Dringlichkeit influenzieller Reziprozität der Disziplinen und Positionen anklingt.

Um zu meiner anfänglichen Aussage zurückzukehren: Ich schätze die Beschäftigung mit Literaturtheorien für die heute herrschenden Diskurse als diplomatisch und normativ bereichernd ein. Sie können sich als Theorien wiederum pragmatisch auswirken. Literaturtheorien sind keine Nischendisziplin des literaturwissenschaftlichen Studiums – das würde ihren Wert bei Weitem mindern. Viel eher sind sie „systematisierte Perspektiven“ (Martin von Koppenfels/Robert Stockhammer). Und nicht nur auf Literatur, sondern auf menschliche Kommunikation insgesamt bzw. deren situative Emissionen sowie ihre Corpora mit „sprechsituationsüberdauernder Stabilität“ (diese Eigenschaft kommt Konrad Ehlich zufolge Texten zu). Die Beschäftigung mit diesen systematisierten Perspektiven kann einem offeneren und vorurteilsfreieren Umgang mit dem (unbekannten) Anderen und einem besseren Verständnis von Welt zuarbeiten – von essenziellen sprachlichen, kommunikativen, medialen und nicht zuletzt narrativen Vorgängen.

Eine Gesprächskultur, die sich ihrer Materialität und Vieldeutigkeit, ihrer Kontextmöglichkeiten und des eigenen und fremden Ideologiepotenzials bewusst ist, ist eine diplomatischere und vorsichtigere, eine, in der (der/die/)das Andere und seine Sichtweise immer schon Platz haben. Sicher müsste eine Behauptung wie diese durchbuchstabiert werden, müssten vielleicht tiefgründige Untersuchungen im Einzelnen klären, ob bestehende Theorien rund um Texte und Literatur sich wiederum normativ auf den pragmatischen Bereich auswirken könnten, eben beispielsweise auf eine neue, ethisch fundierte Gesprächskultur. Doch dafür ist dieser Blog nicht der richtige Ort. In meiner Beschäftigung mit den oben angeführten Theorien sind mir Gedanken wie die hier angerissenen immer wieder durch den Kopf gegangen. Theoriefeindlichkeit sollte genauso wenig einen Platz in der öffentlichen Debattenkultur haben, wie populistische Vereinfachungsrhetorik – doch wird Letzteres wohl kaum so schnell wieder abzuschütteln sein. Was bleibt, sind die vielen Möglichkeiten zur geistigen und normativen Anleihe bei einem weitgreifenden theoretischen Feld, das in sich oft genug lebendige Transzendenz beherbergt.

Fußnoten:

[1] Dazu zählen ökonomische und gesellschaftliche Bedingungen und Verhältnisse, Konventionen der Gesellschaft und ihre Offenheit dem Unkonventionellen gegenüber, das Verhältnis Mensch und Natur, Zugang des Einzelnen zu Überlebens- und Entwicklungschancen, Erkenntnisstand und Reflektiertheitsgrad, kurz: Reife, rational wie emotional, sowie der Grad des ethischen Bewusstseins und der Achtsamkeit.
[2] Tilmann Köppe. „Konturen einer analytischen Literaturtheorie“. In: Thuswaldner, Gregor (Hrsg.). „Derrida und danach? Literaturtheoretische Diskurse der Gegenwart.“ S. 68.
[3] Susan Sontag. "Gegen Interpretation" (1964). In: Susan Sontag. Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. 10. Auflage. Frankfurt a.M., 2012. S. 12.
[4] Jean-Francois Lyotard. Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Stuttgart: 2004 (Reclam Nr. 8668). S. 38.
[5] Lyotard S. 40.
[6] + [7] Sontag S. 21 + 22.
[8] Die Zusammenschau der hier angeführten Literaturtheorien stützt sich vorwiegend auf den Reclam-Band „Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Herausgegeben und kommentiert von Dorothee Kimmich, Rolf Günter Renner und Bernd Stiegler. Durchgesehene und aktualisierte Ausgabe. Stuttgart, 2004“ und die Vorlesungsreihe „Literaturtheorie“ von Prof. Dr. Thomas Klinkert von 2009/2010 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
[9], [10] + [11] Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. S. 225, 226 + 263
[12] Anja Köpper. Dekonstruktive Textbewegungen: Zu Lektüreverfahren Jacques Derridas. Passagen-Verlag. Wien, 1999. S. 30 + 36.
[13] + [14] Köpper. S. 29 + 13.
[15], [16], [17], [18] + [19] Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. S. 288, 363, 368, 368 + 447.
[20] Wellek, René und Austin Warren. Theorie der Literatur. Mit einer Einführung von Heinz Ickstadt. Durchgesehene Neuauflage. Beltz Athenäum.Weinheim, 1995. S. 162.
[21] Wellek, René und Austin Warren. S. 164.