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Glücklich zufällig konnte ich vor Kurzem eine Veranstaltung besuchen (eine Freundin hatte noch eine Karte übrig), die gerade vorzüglich in mein geistiges Programm passt, denn ich denke über Poetologisches nach und was Literatur und Lyrik mir und grundsätzlich bedeutet/bedeuten kann. Meine frühere Uniprofessorin Inka Mülder-Bach unterhielt sich auf der Münchner Literaturhausbühne anlässlich seines neuen Buches mit dem Germanisten Jan Philipp Reemtsma über das Thema: „Was heißt: einen literarischen Text interpretieren?“.

Auch wenn ich Reemtsmas Buch (noch?) nicht gelesen habe und Mülder-Bach ihren anfänglichen Bericht darüber, wie sie mit ihren Doktoranden sein Buch im Colloquium besprochen hatte, mit einem, wie mir schien, durchaus kritisch gemeinten Vergleich zwischen Reemtsma und Emil Staiger1 beendete, kann man die (Befürworter sagen: „originelle“) Anwaltschaft Reemtsmas für die Sache der Literatur loben (was ja viele Stimmen auch tun) sowie seine Anstrengungen, das Reden über Literatur einem breiten Publikum (mit Erfolg) nahezubringen.

Reemtsma gab im Rahmen seiner Verteidigung einer Bestimmbarkeit von Literarizität durch die Unmöglichkeit ihrer Paraphrasierbarkeit einige gedankliche Perlen zum Besten: Er sprach von „verbalen Singularitäten“, die in guter Literatur steckten, oder vom Luxus des Redens über Literatur – dass man sich streiten könne, weil man sich nicht streiten müsse –, und er brach einen Stecken für das individualwerkbezogene „Interpretieren“ (also das Hineinzoomen in einen je spezifischen Text), ohne ein einziges Mal selbst den Begriff des Interpretierens zu benützen. An dieser Stelle wurde er vom die Runde moderierenden Jens Bisky (SZ) unterstützt, der das „Lernen am Einzelfall“ wie in Medizin und Juristerei ins Spiel brachte. Und auch Mülder-Bach schloss sich mit einem Zitat von Szondi dieser Lesart an, nämlich dass Philologie nicht Wissen sei, sondern Erkenntnis. Man war sich also im Kern der Sache einig.

Das alles kann man, wie „ich finde“ (nach Mülder-Bach der Anfang jeden Interpretierens!), bedenkenlos unterschreiben. Auch die von Reemtsma und Mülder-Bach gleichermaßen vertretene Bescheidenheit im Bewusstsein des Interpretierenden, die um das Reden über Literatur als „windige Angelegenheit“ (Reemtsma) weiß, da die immer subjektive Perspektive keine Beweisbarkeit zulässt. Das ist alles richtig und führt, wie es auch den Diskutierenden geschah, dazu, einer Offenheit das Wort zu reden, die in (hoher) Literatur selbst angelegt ist und Deutungsdiversität zulässt, ja fördert. Eine Sichtweise, die, in vielerlei Abwandlung, den meisten „Rednern über Literatur und Kunst“ eigen ist, wie ich zeigen will.

Die Streitigkeiten darüber, was Literatur können und dürfen soll, sind so alt, wie die Literatur selbst, davon zeugen nicht zuletzt die vielen Kontroversen und Eklats der letzten Jahrzehnte, die Robert Weninger wunderbar anschaulich, detailreich und interessant in seinem (wie Reemtsmas Neues) bei Beck erschienenen Buch von 20042 darlegt. Innere und äußere Migration, Literatur und Lyrik nach Auschwitz, gesellschaftliche und politische Einmischung von Literaten und ihren Texten, art pour l'art und engagierte Literatur sind nur einige der in den teils multimedial geführten Debatten aufgeworfenen Themen.

Immer schon, wie Reemtsma bemerkte, ist das Reden über Literatur, so es denn mit einigem Ernst und mit Ahnung unternommen wird, eine Angelegenheit in elitärer Runde (Reemtsma: „Man muss sich das Viellesen leisten können.“). Auch dem kann ich nur zustimmen: Gemessen an der angelesenen Expertise eines Literaturkritikers und Philosophen wie beispielsweise Lyotard kann es sich bei meinen stümperhaften Versuchen, sich einem Literaturbegriff und Kunstverstehen zu nähern, nur um etwas Lächerliches handeln, einen winzigen Radius idiosynkratischer Zufallstreffer, die ich neben meiner Lebenssicherung zu lesen in der Lage war. Dennoch möchte ich die Angelegenheit nicht gänzlich den Experten überlassen, bzw. mich von ihren Expertisen nicht ins Bockshorn jagen lassen, denn die Literatur selbst (ebenso die Kunst), darf und wird (hoffentlich und zum Glück!) nie ausschließlich zu einer Angelegenheit für Experten werden.

Im Übrigen liefert Lyotard selbst die Begründung, warum der Diskurs über Kunst und Literatur nicht den „Experten“ allein überlassen werden darf. Er legt in „Was ist postmodern?“ dar, wie Wissenschaft und Technik neben Machteffekten auch Objekte und Denkweisen generieren bzw. gestalten: „Objekte und Denkweisen, die aus wissenschaftlicher Erkenntnis und kapitalistischer Ökonomie hervorgehen, kolportieren fortwährend eine der Regeln, der sie ihre Möglichkeit verdanken, jene Regel nämlich, daß (sic) es keine Wirklichkeit gibt außer der, die zwischen Partnern in Form eines Konsenses über Erkenntnisse und Verpflichtungen verabredet wird.“3 Diesem Konsens kann jedoch, wie allem, was als selbstverständlich auftritt, etwas fehlen, oder er kann einseitig sein, weil er z.B. einzelnen sozialen Gruppierungen/ Interessensgemeinschaften entspringt bzw. in einem bestimmten Geiste vereinbart wurde, also Interessen dient.

Reemtsmas „Schriften zur Literatur“ (ebenfalls Beck) zufolge, hat es Adorno, der in den oben erwähnten Debatten über Literatur an vorderster Front mitstritt, bei Reemtsma schwer. Und hier muss ich meine Affirmation verweigern bzw. an das Vermögen Adornos erinnern, Sachverhalte ideologiefrei und eben im Interesse der Sache zu erfassen.

Adornos „Ästhetische Theorie“ ist, wie manche Kenner meinen, das Werk seines Lebens. Seine philosophischen Reflexionen und Erfahrungen sind in diesem Buch selbst schon zu einer Art Gesamtkunstwerk gefügt. Er weiß natürlich um die Doppelcharakteristik von Kunst als fait social und Autonomes. Doch weder purer Selbstzweck noch Trostformel soll die Kunst dem Menschen sein: Das eine kann uns ihr gegenüber gleichgültig machen, das andere instrumentalisiert und bagatellisiert sie. Im Versuch, Kunst nicht interpretatorisch festzunageln (laut Adorno sind in der Kunst prinzipiell keine Invarianten auszumachen, es lassen sich keine Allgemeinstrukturen verbindlich machen, und der Versuch hierzu ist Teil eines falschen Kunstverständnisses), sondern ihre generelle Nicht-Festlegbarkeit dialektisch zu umkreisen, schafft Adorno etwas Einzigartiges: In der Komplexität seiner Kunsttheorie steckt die Komplexität der Kunst selbst. Die Konstellation der Teilkomplexe eines Kunstwerks, „die um einen Mittelpunkt angeordnet sind, den sie durch ihre Konstellation ausdrücken“4, das ist der Adornos Verständnis von Kunst am nächsten kommende Versuch einer „Definition“.

Er setzt sich gegen eine Interpretation zur Wehr, die Identifikation sucht und das Werk vereinnahmt, denn: „Fremdheit zur Welt ist ein Moment der Kunst; wer anders denn als Fremdes sie wahrnimmt, nimmt sie überhaupt nicht wahr“5. Erst immanente Kritik nach den dem Kunstwerk eignenden Gesetzmäßigkeiten und Regeln kann einem Kunstwerk gerecht werden – was ist das anderes als die oben gepriesene Einzelfallanalyse? Die kasuistische Durchführung einer solchen inhärenten Logik ist nötig; dagegen steht jedoch der banausische, einebnen wollende Versuch, Allgemeinstrukturen verbindlich zu machen. Immanenter Sachverstand entwickelt sich einzig „kasuistisch“: Ästhetische Rationalität muss sich blind in die Gestaltung hineinstürzen und zum Sich-selbst-Denken des Kunstwerks werden, das entspricht „immanenter Sachvernunft“. Adorno sinniert weiter, dass eine „richtige“ ästhetische Wahrnehmung in dem Augenblick beginnen könnte, wo der Rezipierende sich vergisst und im Werk verschwindet. Die vom gesellschaftlichen Menschen zu allen Zeiten mühsam aufrechterhaltene Funktionsfähigkeit (der Existenzwahrung) wird erschüttert und im Moment „richtigen“ Rezipierens annihiliert: Der Mensch wird so frei.

Sich nicht instrumentalisieren lassen, dies gar nicht als immanente Option in sich zu tragen: Das ist die Wahrheit von qualitativ hochwertiger Kunst. Damit manifestiert sie gleichzeitig die Möglichkeit von Heterogenität anderen menschlichen „Produkten“ gegenüber, ohne allerdings diese Heterogenität durchzubuchstabieren. Dergestalt bricht Kunst als Manifest grundsätzlicher Offenheit in das Bewusstsein der Menschen ein.

Die gesellschaftliche Relevanz von Kunst lässt sich bei Adorno dort ausmachen, wo sich authentische Kunst gegen Vereinnahmung, Identifikation und subsumierende Inbesitznahme sträubt. So erzieht sie, wenn man das weiterdenkt, den Rezipienten: Wie das falsche Kunstverständnis laut Adorno etwas mit der Angst ums Eigentum zu tun hat, so kann das „richtige“ Verständnis authentischer Kunst zu deren Gegenteil erziehen – zu einer Lebensmentalität der Toleranz und Großzügigkeit, weil es die Einstellung auf ein stets Anderes hin öffnet und offen hält.

Die bei diesem Thema häufig als Kontrahenten einander gegenübergestellten Philosophen Adorno und Sartre (Adorno wird gerne vereinfacht als Verfechter der art pour l'art, Sartre als derjenige engagierter Kunst gesehen) sind so gegensätzlich nicht. Folgt man der eben eingeschlagenen Richtung, kann man auch bei Sartre den Gedanken finden, dass Kunst nicht der Indienstnahme sich fügt, weil sie einzig ihrer immanenten Logik folgt. Sartre formuliert: „Das Kunstwerk hat keinen Zweck, [... a]ber das liegt daran, daß (sic) es ein Zweck ist”6, und weiter: „[D]as Wesen des literarischen Werks [ist] die Freiheit [...], die sich entdeckt und total sie selbst sein will als Appell der Freiheit an die andren Menschen“7. So bricht sich also bei Sartre explizit eine pädagogische Wirkung Bahn, der Rezipient begreift: „Kunst gibt es nur für und durch andere”, und “je mehr wir unsere Freiheit erfahren, desto mehr erkennen wir die des anderen an”.8 Eine Gegenüberstellung der beiden Denker scheint hier aus genannten Gründen unsinnig, ja kontraproduktiv zu sein.

Das Originäre, „nicht Schablonenhafte“, das Organische, Authentische, Autonome, das eines starken Ich bedarf, sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption, „die Divergenzen des Mannigfaltigen“, die im je gelungeneren Kunstwerk desto unmissverständlicher zu Tage treten, sie machen nach Adorno die Qualität eines Werkes aus. Die Erfahrung von Kunst als die Erfahrung ihrer originären Wahrheit ist mehr als ein subjektives Erlebnis (weswegen auch der heutige Eventcharakter von Kunst in die falsche Richtung führt): Sie ist der Durchbruch von Objektivität im subjektiven Bewusstsein. Objektivität, die sich kraft der Formprinzipien und des Künstlers im Werk entfalten konnte.9

Das Bewusstsein des Ich begreift durch diesen Einbruch, dass es nicht das letzte ist, worauf alles ankommt. Die subjektive Erfahrung wider das Ich ist ein Moment der objektiven Wahrheit von Kunst. Kunst verkörpert in der verwalteten Welt, was sich nicht verwalten lässt und was die totale Verwaltung unmöglich macht. Dieser an Aktualität nach wie vor nichts eingebüßt habende Beobachtungskern ist eine Erkenntnis, die m.E. seit jeher als Relevanzmomentum oder gar als „Rechtfertigung“ der Existenz und Förderung von Kunst in menschlichen Gesellschaften gelten kann. Adorno selbst nimmt sich, wie dargelegt, gegen jede gesellschaftliche Indienstnahme aus. Ohne es in erster Linie bewusst inhaltlich zu beabsichtigen, ist Kunst als solche für ihn „das Differenzial von Freiheit inmitten der Determination“. Die utopische Macht von Kunst besteht darin, dass die „Wirklichkeit der Kunstwerke [….] für die Möglichkeit des Möglichen”10 zeugt.

Das gilt allerdings wirklich nur für authentische Kunst: Schaumschlägerei ist nicht nur anspruchs- und anstrengungslos (und die Belohnung von Anstrengung ist: Tiefe!); sie kolportiert auch eine wahrhaft unerträgliche, weil unwahre Leichtigkeit des Seins. Mit aller Macht gilt es, sich an das konstruiert leichte, euphorisierend abheben wollende Neusprech der Zeit zu hängen, den Marketingstil unserer stets verspielten, zum Ernst kaum noch fähigen Gedanken zu sabotieren, ihn hinunterzuziehen, bis er am Boden der Tatsachen zerschellt. Man muss das schwere Sprechen wieder lernen.

Jedoch wird es vielleicht immer auch affirmative, das Leben bagatellisierende, eskapistische (Trivial-)Literatur geben, denn das Bedürfnis der Menschen nach Zerstreuung wird so lange existieren, wie der Druck heteronomen Lebens (Adorno) besteht, denn von einer selbstbestimmten, emanzipierten Lebensweise (zu der vollumfassende Bildung das sine qua non ist) sind viele Menschen heute noch so weit entfernt, wie je. Nur eine Minderheit verwirklicht in ihrem Leben die äußerste Anspannung, die nötig ist zur „Konzentration eines starken Ichs, welche das nicht Schablonenhafte erheischt”11. Erst diese (kritische) Anspannung jedoch ermöglicht es dem Menschen laut Adorno, sich den ihm aufoktroyierten Verhältnissen zu entziehen.

Die Diskussion nach Adornos Diktum, nach Auschwitz sei keine Kunst mehr möglich, die sich letztlich um die Aufgabe der Kunst und der Intellektuellen in der Gesellschaft drehte, und die (meist selbst kunstschaffende) Befürworter künstlerischer Realitätsbewältigungsversuche auf den Plan rief, brachte Adorno schließlich dazu, seine Aussage zu relativieren und eine werk- und formimmanente Nichteinnehmbarkeit des Kunstwerks als gesellschaftliche Utopie, die eine Existenz von Andersartigkeit in Aussicht stellt, zu befürworten.
Ich lese diese Lesart Adornos vom Kunstwerk als mein eigenes Verständnis und mein Postulat ethischer Implikationen bestätigend. Die „Divergenzen des Mannigfaltigen“, von denen Adorno spricht, ähneln, wie ich glaube, stark den Heteronomien Lyotards und scheinen mir auf der Ebene der Wissenschaft einer gelebten Inter-/bzw. Transdisziplinarität, auf der Ebene von Psychologie und Soziologie dem stets Anderen und auf der Ebene der Biologie und Ökologie der Biodiversität analog zu sein, die der Mensch immer weiter und zunehmend rasant schmälert. Man könnte etwas zugespitzt folgern, dass kluge Köpfe schon immer Diversität und Disparität erkennen und anstreben, eine Sichtweise, die auch angesichts zeitgenössischer Entwicklungen nicht genug hervorgehoben werden kann.

Faktisch war die Beschäftigung mit einer Ethik heutigen Lebens selten so nötig wie jetzt, in einer Zeit in der die Menschen so viel und immer mehr vermögen, in der die chemischen, biologischen, medizinischen, produktionstechnischen und informationstechnologischen Möglichkeiten enorm sind und sich täglich multiplizieren, auf der anderen Seite die „generelle Kluft“ zwischen Reich und Arm, Gebildet und Ungebildet, Handlungsfähig und Zwangspassiv immer weiter aufreißt, und sekündlich Menschen und Tiere im grausamsten Elend zugrundegehen. Zudem schrumpfen das Wissen und die Erfahrung rund um eine polyfokale Sichtweise (einzelne Sachverhalte aus verschiedenen Perspektiven sehen zu können)12 im einzelnen Menschen immer weiter auf seine private und fachliche Warte hin. (Darum vielleicht auch die wachsende Unbarmherzigkeit der Standpunkte, die ohnehin geringe, weiter schrumpfende allgemeine Empathie. Es ist natürlich wahr, dass in erster Linie der Schlaf der Vernunft Ungeheuer gebiert (Goya), das gilt aber auch für den Schlaf der Empathie!) Der Durchbruch von Objektivität und Offenheit als Folge einer „richtigen“ Rezeption „authentischer“ Kunst kann die Kunst, ohne in ihre je individuelle Gestaltung einzugreifen, als ethisches Korrektiv gelten lassen und erklärt so nicht zuletzt auch die Angst der Manipulanten und Engstirnigen vor ihr.

Es ist bekannt, dass auch Lyotard die Differenzen, das Andere, die Utopie, vor dem Dogma retten will, er sagt: „Es sollte endlich Klarheit darüber bestehen, daß (sic) es uns nicht zukommt, Wirklichkeit zu liefern, sondern Anspielungen auf ein Denkbares zu erfinden, das nicht dargestellt werden kann. […] Krieg dem Ganzen, zeugen wir für das Nicht-Darstellbare, aktivieren wir die Differenzen, retten wir die Differenzen, retten wir die Ehre des Namens.“13

Lyotard lehnt sich bei seiner Analyse von Kunst an Kants Begriff des Erhabenen an, dessen Ästhetik mit dem Mittel der Anspielung operiert, um der Identität des Bewusstseins zu entgehen (Adorno!) und das Nicht-Darstellbare erahnen zu lassen. Während moderne Kunst laut Lyotard die Form noch wahrt, die „dank ihrer Erkennbarkeit dem Leser oder Betrachter weiterhin Trost gewährt und Anlaß von Lust ist“14, geht das Postmoderne darüber hinaus: Es verweigert sich „dem Trost der guten Formen […], dem Konsensus eines Geschmacks, der ermöglicht, die Sehnsucht nach dem Unmöglichen gemeinsam zu empfinden und zu teilen“ und sucht nach neuen Darstellungen, „jedoch nicht, um sich an deren Genuß zu verzehren, sondern um das Gefühl dafür zu schärfen, daß (sic) es ein Undarstellbares gibt.“15

Und auch er vertritt die Sichtweise, dass Kunst einzig ihrer immanenten Logik folgt. Über mögliche Regeln zur Darstellung des Undarstellbaren resümiert er: „Ein postmoderner Künstler oder Schriftsteller ist in derselben Situation wie ein Philosoph: Der Text, den er schreibt, das Werk, das er schafft, sind grundsätzlich nicht durch bereits feststehende Regeln geleitet und können nicht nach Maßgabe eines bestimmenden Urteils beurteilt werden, indem auf einen Text oder auf ein Werk nur bekannte Kategorien angewandt würden. Diese Regeln und Kategorien sind vielmehr das, was der Text oder das Werk suchten. Künstler und Schriftsteller arbeiten also ohne Regeln; sie arbeiten, um die Regel dessen zu erstellen, was gemacht worden sein wird.“16

Dass noch viele, unserer Zeit näher stehende Theoretiker sich in der Befürwortung des Disparaten in der Kunst (und im Leben) einig sind, mag jene nicht überraschen, die davon Kenntnis besitzen, dass irgendwann in der geschichtlichen Theorieentwicklung von den sogenannten Regelpoetiken zu Abweichungs- und Verfremdungspoetiken übergegangen wurde.

Doch dazu mehr in Teil II dieses Blogeintrags.

Fußnoten:

[1]  Der Germanist, der 1966 mit seiner Dankesrede anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Stadt Zürich den sog. "Zürcher Literaturstreit" ausgelöst hatte, in dem es um Fragen zur gesellschaftlichen Verantwortung von Künstlern/Schriftstellern und die Definierbarkeit von Autonomie und Engagement ging, bis heute aus Gründen der künstlerischen/literarischen Freiheit und der ideologischen Verschonung unbeantwortete Fragen.
[2]  Robert Weninger.  
Streitbare Literaten. Kontroversen und Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser. C.H.Beck: 2004.
[3]  Jean-Francois Lyotard. Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? In: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Stuttgart: 2004 (Reclam UB #8668), S. 41.
[4]  Editorisches Nachwort. In: Theodor W. Adorno. Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften. Bd. 7. Suhrkamp: 2003, S. 541.
[5]  Ästhetische Theorie, S. 274.
[6]  Jean-Paul Sartre. Was ist Literatur? Herausgegeben, neu übersetzt und mit einem Nachwort von Traugott König. Gesammelte Werke. Bd. 2. Schriften zur Literatur. Rowohlt: 1986, S. 42.
[7]  Ebd., S. 117.
[8]  Ebd., S. 39-45.
[9]  Vgl. Ästhetische Theorie, S. 11.
[10]  Ebd., S. 200.
[11]  Ebd., S.  377.
[12]  Die "bifokale" Sichtweise wird von Barry Schwartz und Kenneth Sharpe in ihrem Buch „Practical Wisdom” erörtert. (Siehe Sarasota Herald-Tribune „Getting older and wiser“ https://eu.heraldtribune.com/story/news/2014/12/08/getting-older-and-wiser/29285518007/). Es handelt sich also um den Balanceakt zwischen verschiedenen, am Einzelfall gewonnenen Einsichten und Erkenntnissen, der den beiden zufolge Bestandteil praktischer Weisheit ist, die mit dem Alter und einer gewissen Erfahrung naturgemäß zunimmt, m.E. jedoch (wie alle bildungsaffinen Fähigkeiten) selbstverständlich gefördert werden kann.
[13]  Was ist postmodern?, S. 48.
[14] + [15]  Ebd., S. 47.
[16]  Ebd., S. 47f.