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Mir scheint es tatsächlich unabdingbar zu sein, dass wir, wir aus dem Westen, uns eine Perspektive auf die Zeit zu eigen machen, die wieder ein Versprechen bereithält.

Die Idee zu diesem Blogbeitrag ist etwa 7 Jahre alt.
In 7 Jahren (vielleicht in ein paar mehr) hat sich das Klima für ein Nachdenken über Gefühle – ich möchte sagen – signifikant geändert. Die Wellen von #MeeToo haben die emotionsfeindliche bzw. -ignorante Kruste, die vielerorts auf unserer Gesellschaft lag und liegt, genauso aufgeweicht wie klimatische Veränderungen und deren Auswirkungen und Bedrohungen eine für sicher und wohlständig gehaltene, selbstzufriedene Lebensart hierzulande und andernorts.

Zusehends (und leider gezwungenermaßen ex negativo) wird die Rolle von Gefühlen bei politischen Wahlen anerkannt (Stichwort: Rechtsruck), es geht immer mehr darum, Menschen abzuholen, wo sie stehen; emotionale Reaktionen auf gesellschaftliche Phänomene wie Leistungsdruck, hohe Stresslevels, Krisen und Umwälzungen (Krieg in Europa, Fremdenfeindlichkeit) werden zunehmend zur Kenntnis genommen (schulische Depressionen, Burn-Outs, Sabbaticals). Zusehends demonstrieren aber auch öffentliche Kundgebungen emotionale Anteilnahme (z.B. pro-demokratische Zusammenkünfte 2023/24 in vielen Städten). Und Publikationen zu all diesen Themen multiplizieren sich bereits seit Jahren. Einige möchte ich mir genauer ansehen und darüber reflektieren, was Gefühle heute bedeuten und vielleicht bedeuten sollten. Mit Nachweisen der Grundlagenwichtigkeit von (alltagssprachlichen) Gefühlen allein ist es jedoch nicht getan – auch dem ist die verzögerte Fertigstellung des vorliegenden Essays geschuldet. Immer wieder fallen mir zeitgenössische Relevanzen in den Schoß – fast scheint es mir angemessen, die emotionale Wende auszurufen! 

Mich interessieren Emotionen weniger in ihrer biologischen oder physiologischen Manifestation und Konsequenz, obwohl sie die Schlagseite wissenschaftlicher Untersuchungen zum Thema ausmachen. Nun gibt es keine einheitliche Klassifikation von Emotionen, viele Wissenschaften beschäftigen sich mit ihrer Erfassung oder Theoretisierung (z.B. Psychologie, Philosophie, Verhaltensbiologie und -ökonomik). Während die Lebenswissenschaften vorwiegend ihre physiologisch-strukturell-chemischen Komponenten untersuchen, spielen in anderen Wissenschaften die psychologisch-sozial-ethischen Verquickungen und Auswirkungen eine Rolle. Gerne gibt es immer wieder Rivalitäten und Grabenkämpfe, gerne möchte die eine Annäherung die andere Herangehensweise aushebeln aber auch ergänzen. 

Es gibt einen (sicher nicht den einzigen) Versuch, bestehende Fronten zu versöhnen, beispielsweise in der 2019 publizierten Kooperation zweier Wissenschaftler, eines Philosophieprofessors, Stephen T. Asma, und eines Psychologen, Rami Gabriel. Darwin aufgreifend, der die menschlichen Emotionen adelt, indem er ihnen einen evolutionären Vorteil für den Menschen zuschreibt, erschließen sie die emotionale Grundlage des menschlichen Bewusstseins und der menschlichen Kultur, lange bevor das rationale Denken im Lauf der Menschheitsgeschichte expandierte. Letzteres soll sich wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge erst vor 1,8 Millionen Jahren entwickelt haben, unser sprachsymbolisches System sogar noch später. Das emotionale Gehirn jedoch befindet sich laut den Autoren schon seit mindestens 200 Millionen Jahren im Bau. Dies anhand von Forschungsergebnissen und Daten aus Philosophie, Biologie und Psychologie voraussetzend entrollen die Kooperierenden Asma und Gabriel ihr 3-Schichten-Modell der Funktionsweise unseres emotionalen Gehirns, das uns zu vielen Teilen mit anderen nichtmenschlichen Lebewesen eint (ein Stabbruch gegen Speziesismus, der nebenbei auch noch geschieht). 
Während in Schicht 1 Überlebensprozesse zur Ressourcensicherung ablaufen, die der physiologischen Balance dienen, werden die Bedürfnisse in Schicht 2 spezifischer, z.B. Angst vor Licht (Ratten) gegen Angst vor der Dunkelheit (Menschen). In der 3. Schicht erst finden wir konzeptuelles und narratives Denken, dessen Wurzeln in die tieferen Schichten reichen, das jedoch vorwiegend in den evolutionär später entstandenen Bereichen ausgespielt wird.

Die Verbindung mit allen Säugetieren vollzieht sich über 7 Grundemotionen (Angst, Lust, Fürsorge, Spiel, Wut, Suche und Panik/Trauer), diese haben alle Säuger gemeinsam. Doch werden sie durch die drei Schichten des Geistes (three layers of mind) gefiltert und generieren so eine außerordentliche Vielfalt. Je nach Entwicklungsstufe des Säugers durchdringen, infiltrieren und animieren die untersten emotionalen Schichten die höheren und lösen wechselseitige Reaktionen und Rückmeldungen aus. Die These der beiden Wissenschaftler lautet nun, dass sich die Menschen mit der Entstehung der Schichten (insbesondere der höchsten) selbst emotional domestizierten und ihre Motivationen und Sehnsüchte zugunsten einer prosozialen Koexistenz kontrollierten und formten. Was den beiden Autoren hier also vorschwebt, ist nichts Geringeres als die Versöhnung der Bewusstseinsstufen und der Lebensformen – ob ihr Unterfangen in der wissenschaftlichen Community Zustimmung und Erfolg erwarb, kann an dieser Stelle nicht beurteilt werden.

Was ich jedoch intuitiv als äußerst einleuchtend empfand, ist die gegenseitige Durchdringung primitiver und elaborierter Emotionen und Kognitionen, ihre gegenseitige Beeinflussung. Und unsere Verwandtschaft mit Tieren – deren Emotionalität lebensweltlich einfach nicht mehr von der Hand gewiesen werden kann1 (und selbst von Lobbyist*innen der Massentierhaltungen und ähnlich ausbeuterischen Interessenlagen kaum noch bestritten wird)2
Es drängt sich meines Erachtens auch der Gedanke auf, die Entwicklung von der ersten zur dritten Schicht und die Handhabe sich durchdringender Layers sei ein Fortgang, den jedes menschliche Wesen, das dazu kognitiv in der Lage ist, auf die eine oder andere Weise im Lauf seines eigenen Lebens vollzieht. Mich interessieren an dieser Stelle solche (menschlichen) Emotionen, die, wie Roberts C. Roberts es ausdrückt, ein „hohes Maß an Bewusstsein des Selbst (sense of self) oder an höherstufigen kognitiven Prozessen erfordern“3. Keineswegs will und kann ich in einem umfangsbeschränkten Blogbeitrag erschöpfend ein Thema aus dem Fluss heben, aber ich will doch einige Proben nehmen und Akzente setzen, die mir wichtig sind. 

Gefühle und Erziehung

Stoff für Psycholog*innen, Familienstreits, frühkindliche, soziale und schulische Erziehung und Bildung, Aufarbeitung von Traumata und Psychoanalyse, kindliche und erwachsene, alltägliche Regulation, Koregulation und Rekreation: Emotionen sind ein wesentlicher Bestandteil unserer täglichen Leben. Es gibt kein unemotionales Dasein. So existenziell und essentiell Gefühle aber sind: Wird ihnen gebührend (exklusive oder integrative) Aufmerksamkeit zuteil?
Denn gerade wenn wir das nicht tun, wenn wir die Realität von Emotionen leugnen, sie unterdrücken und uns über sie hinwegsetzen, nicht versuchen, ihnen nachzuspüren und sie zu verstehen und zu integrieren, können sie ungefragt wirken, unreflektiert, als Affekt aufwallen und Entscheidungen und Handlungen ggf. auch „irrational“ beeinflussen und verändern, Menschen emotional verletzten etc. Emotionen laufen vielerorts vermeintlich „aus dem Ruder“. Die Kultivierung von Emotionen von den kindlichen Anfängen an und über das Erwachsenenalter hinaus muss eine individuelle, soziale und öffentliche Aufgabe sein, die in Gesellschaft, Bildung und Politik ihre Berechtigung und ihren Platz hat.

Konsultiert man den inzwischen verstorbenen Familientherapeut, Konfliktberater und Autor Jesper Juul, der unter anderem in dem Buch „Aggression. Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist“ für einen offenen und transparenten Umgang mit Emotionen warb, so sind Gefühle absolut und primär maßgeblich für die Entwicklung. Er bezeichnet u.a. die Aggression als „soziale Reaktion“4 und meint, die „Fähigkeit, das aggressive Verhalten eines Individuums – egal welchen Alters – zu entschlüsseln“ sei „mit der Fähigkeit, hinter Moral und Selbstbewusstsein zu blicken, gleichzusetzen."5 Doch wird ein Umgang mit kindlichen Emotionen häufig genug nicht bedürfnisgerecht pädagogisch begleitet, im fachpersonell unterbesetzten Alltag ist oft nicht Raum für eine individuelle Begleitung und Koregulation: Überforderung der Erwachsenen, Hektik und der Anspruch, alle müssten besser funktionieren – unter solchen schlechten Rahmenbedingungen wird man vielleicht schlimmstenfalls sich selbst überlassen oder Gefühle werden wegrationalisiert.
Auch der Neurobiologe Gerald Hüther beklagt eine Rationalisierung des Umgangs. Oft werde schon dem Kind die emotionale, emphatische Regung durch eine kognitive Erklärung abgewöhnt6. Die Verbindung zu den eigenen Gefühlen verkümmern zu lassen oder zu verlieren bedeutet, die betroffene Person funktioniere nur noch.7 Die gewachsene Fähigkeit zur Affektregulation ist laut Hüther jedoch essentiell menschlich, eine seiner größten Fähigkeiten – so es zu ihrer Entwicklung kommt. 

Am Anfang begleiten uns Gefühle noch vielfach unbewusst, denn für ein Kind ist alles Gefühl. Erst in der allmählichen Bewusstwerdung dessen, was mit mir passiert, was ich erlebe und empfinde, entsteht – die Spiel- und Erlebnissituation muss es auch zulassen und im Ausleben ins Innenleben hineinholen – die Fähigkeit zu Selbstregulation, die auch viele Erwachsene noch nicht beherrschen. Unbedingt wichtig ist dafür das soziale Leben, das soziale Korrektiv. Letzteres ist nicht (wie manche Zyniker vielleicht meinen) Manipulation – vielmehr kann man in diesem Zusammenhang von Ko-Regulation oder begleitender Regulation sprechen8, es ist Überleben und zugleich Entwickeln eines sozialen Wesens. Das (begleitete) Verständnis emotionaler Vorgänge im eigenen Selbst kann (ganz oder bis zu einem gewissen Grad) zu Rationalisierung führen – womit man bei Kindern nicht zu früh beginnen sollte. So gelingt es erst Grundschulkindern allmählich, die eigenen Emotionen immer besser zu regulieren und kognitiv zu beeinflussen, Ereignisse durch Zulassen anderer Perspektiven neu zu bewerten und dadurch die eigenen Gefühle zu verändern. Das alles gehört zu einer „erfolgreichen emotionalen Kommunikationsfähigkeit“ und mündet letztlich in emotionale Kompetenz: „Eine besondere Entwicklung der ersten sechs Schuljahre, die sich in Form gesteigerter sozialer Fähigkeiten während der Grundschulzeit weiterentwickelt und zu einer erhöhten Akzeptanz unter Gleichaltrigen (Peers) führt“9.
Die Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen in der Kindheit ist also außerordentlich wichtig. Wichtiger als gezielte Vorschulfertigkeiten, die zuweilen auf eine Konditionierung hinauslaufen, um (nun) in der Grundschule ein besseres Funktionieren zu gewährleisten.

Gabriele Haug-Schnabel und Joachim Bensel sprechen in ihrem Grundlagenwerk zur Entwicklungspsychologie10 von 2017 von 7 Prozent der erwachsenen Bevölkerung, die an Alexithymie, Gefühlsblindheit, leiden. In dem im Februar 2023 erschienenen Artikel der Autorin Claudia Wiggenbröker (CW) sind es bereits 10-13 Prozent der Deutschen11. Alexithymie ist die menschliche Unfähigkeit, mit Gefühlen etwas anfangen zu können. Betroffene empfinden ihre Gefühle nicht differenziert und können sie demzufolge auch nicht in Worte fassen. Die Forschung vermutet, dass neben Veranlagung auch Vernachlässigung in der Kindheit beim Ausprägen eines solchen Unvermögens eine Rolle spielt, die mangelhafte Assoziation von erlebten emotionalen Zuständen mit verbalen Beschreibungen während der Kindheit. Dazu kommt es, wenn Bezugspersonen den Kindern zu wenige und zu spärliche Erklärungen und Verbalisierungsangebote für Gefühle machen. Eine entsprechende Wahrnehmung und Verarbeitung von Affekten also nicht oder kaum stattfindet. Für solcherart erwachsen gewordene Menschen ist der Alltag eine beständige Zumutung: Der Psychotherapeut Matthias Franz wird von CW zitiert, er beschreibt das alltägliche Lebensgefühl als „Übergangenwerden“, „Ausgeschlossenheit“ und „beständige diffuse Irritation“ bis hin zu „Pseudoemotionalität“, um dennoch dazuzugehören. Im Ergebnis können alexithyme Menschen nicht mit Konflikten umgehen, haben vermehrt (chronische) psychosomatische Beschwerden, leiden unter Depressionen oder flüchten sich in Abhängigkeiten. Einmal kurz innehalten: Immerhin jeder zehnte Mensch soll dem Artikel zufolge hierzulande unfähig sein, eigene oder Gefühle anderer zu erkennen oder zu deuten – es gälte in größerem Umfang zu untersuchen, welchen Einfluss das auf den täglichen Umgang der Menschen miteinander hat.

Wiggenbröker hat in ihrem Artikel eindringlich zusammengetragen und dargelegt, wie wichtig es für Kinder ist, ihre Gefühle kennen- und aussprechen zu lernen. Mangelhaftes Emotionswissen sieht die Forschung jedoch auch in der Gesamtgesellschaft und ihren hierfür verkümmerten Mechanismen. CW lässt wieder Matthias Franz zu Wort kommen, der konstatiert: „Da die Wahrnehmung von Affektsignalen die Voraussetzung jeder Bindung ist, kann das auch Folgen für den sozialen Zusammenhalt einer ganzen Gesellschaft haben.“ Diese Wahrnehmungsprozesse hängen nicht zuletzt mit dem menschlichen Selbstwertgefühl zusammen – das sich im Laufe des Wachstums auf einer soliden Basis entwickeln kann oder eben nicht.
Jesper Juul zufolge entwickelt sich das menschliche Selbstwertgefühl auf zwei Ebenen: einer quantitativen und einer qualitativen. Quantitativ bedeutet: „Das Maß an Selbsterkenntnis vergrößert sich immer mehr. Entscheidend bleibt, sich seines Selbst stets bewusst zu sein.“ Qualitativ meint, diese Ebene „hängt fast gänzlich vom verbalen und nonverbalen Feedback ab, das Eltern, andere wichtige Erwachsene oder Geschwister (in dieser Reihenfolge) dem Kind zuteil werden lassen.“12 Selbsterkenntnis und Feedback von außen bilden den innerindividuellen Resonanzraum, der in Dauerschwingung Selbstwert produziert. Wenn ich mich selbst im mir angemessenen Tempo emotional entwickeln darf, ohne unzeitgemäßes Drängen von außen, ohne mechanistische Konditionierung, das hat – so sagt mir wiederum meine Intuition (mein „Kompass in Situationen des Nichtwissens“, Svenja Flaßpöhler13) – mit dem Gefühl für die eigene Würde zu tun, das man en passant entwickelt. 
Darüber hinaus spielen emotionale Faktoren auch eine Rolle beim Lernen, schon in der Grundschule. „The learning mechanisms operate with the feelings“ (Jaak Panksepp)14. Emotional stabile, verlässlich agierende uns zugewandte Lehrpersonen sind für die Erfahrung der Selbstwirksamkeit und eine Kultur der Fehlerfreundlichkeit wichtig. Und ein emotionales Klassen- und Unterrichtsklima der gegenseitigen Unterstützung, des Respekts, der Empathie und Ermutigung, der Toleranz und des Zusammenhalts bestimmen den Lernerfolg maßgeblich mit15

Übung, Zumutung, Eskapismus

Aber ein emotionales „Erwachsen“ ist mit dem Erreichen des Erwachsenenalters nicht erledigt. Zur emotionalen „Bildung“ gehören die begleitende Rücksichtnahme und das Geltenlassen von Gefühlen (eigenen und anderen), das Gehört- und Gesehenwerden durch andere, die Selbstpflege, meditative oder in ihrer Wirkung gleichwertige Zustände (eskapistische Gelegenheiten wie Wandern in der Natur etc.) – das muss weder religiöse, noch esoterische Züge annehmen. Beständige Selbstbefragung tut Not. Sonst kommt es vielleicht im alltäglichen Funktionierenmüssen zu Überforderung, zu kognitiver Dissonanz oder zu einem Gefühl, missverstanden zu werden, bzw. einem fehlgeleiteten Verteidigungsbedürfnis: Ressentiments. 
Der Psychologe und Psychoanalytiker Hans-Jürgen Wirth spricht sich für eine Art emotionales Empowerment, eine Überwindung des Ressentiments oder der narzisstischen Kränkung (starken, sich wiederholenden Gefühlen von Kränkung und Ohnmacht) durch Mentalisierung aus. „Man verarbeitet Gefühle und ordnet sie ein, setzt sie in Relation, muss sie sich auch überhaupt mal bewusstmachen.“ Diesen Vorgang der Mentalisierung halte ich – so banal und selbstverständlich er für einige sein mag – für grundlegend relevant. Denn ein Großteil der Gefühle spielt sich unbewusst ab, ist jedoch Wirth zufolge trotzdem unabdingbar für unsere Orientierung. „Aber um sie wirklich nutzen zu können, ist es wichtig, dass Denken und Fühlen sich wechselseitig durchdringen. Der Neurowissenschaftler António Damásio sagt: Wir haben eben nicht nur Gefühle, sondern wir können die Gefühle auch lenken und durchdenken, die Gefühle durchdringen unser Denken. Dadurch wird es sehr viel tiefgründiger und weiter und entfaltet die spezifisch menschliche Kompetenz.“16 Der im leistungsgetriebenen, kurzatmigen Alltag geschrumpfte Raum dafür kann der Zwischenmenschlichkeit einer Gesellschaft durchaus schaden.

Die gesamte zwischenmenschliche, auch breitenwirksame Kommunikation zählt ununterbrochen auf ihre Antwort: In Marketing, Kampagnen, Politik, Wahlen, im alltäglichen Miteinander und im sozialen Gefüge geht es nicht ohne emotionale Responsivität. Das primäre Überleben wird durch emotionale Ansprache gesichert, kein Neugeborenes überlebt ohne Empathie, Gefühle sind die Fundamente unserer Menschlichkeit. Mit emotionaler Abstumpfung geht Dehumanisierung17 einher.

Subjektivität, also die individuelle Bezugnahme, Bewertung und Sichtweise – und dabei auch die gefühlte –, „ist kein Zufall, sondern notwendig“18. Eine indexikalisch „erkennende, fühlende, handelnde, verkörperte Subjektivität“ braucht es laut Anton Friedrich Koch als Drittes neben allgemeinen Eigenschaften und Raumzeitstellen „[u]m der ontischen Individuation der Dinge willen“19.
Diese Begründungsthese des neuen Realismus, der die erste Philosophie als Hermeneutik versteht, nicht als Metaphysik, bekräftigt die Bedeutung des fühlenden Subjekts. Das bringt Seiten in mir zum Klingen: Und scheint Antworten auf die Frage geben zu können, warum es so wichtig ist, wie wir individuell leben, wie wir uns verhalten oder moralisch entscheiden.
Nicht nur die kognitiven Fähigkeiten logischen, rationalen, zielgerichteten Denkens, der Deduktion und der gedanklichen Hinführung: Auch Gefühle sind kulturelle Errungenschaften. Sie sind (nicht nur den eingangs erwähnten Autoren Asma und Gabriel zufolge) sogar um ein Vielfaches älter und urtümlicher als unser rationales Denken.

An Gefühlen festzuhalten, auch „unzeitgemäße“ Gefühle wieder aufleben zu lassen, ist ein Anliegen Martin Scherers, seines Zeichens Philosoph, Buchautor, Life-Coach und Memoiren-Ghostwriter. Für ihn sind Gefühle: „Aufstände gegen die Prosa der Welt, gegen das Nüchterne, gegen das Kalkulierende, gegen das Berechnende, gegen die, sagen wir, die Omnipräsenz von Ich und Wille. All das, was dazu subversiv läuft, was es konterkariert, das hat auf mich eine ganz natürliche Anziehungskraft. Ich würde es Ästhetik der Existenz nennen."20 Emotionen als das Salz in der Alltagssuppe – die Beschäftigung mit Gefühlen verleiht nicht nur mir selbst, sondern auch dem*r Anderen wieder Tiefe. Weg von der Reduktion auf mich, auf das, was ich mitbringe, erkenne ich in der Vielfalt und Tiefe von Gefühlswelten, den eigenen aber auch denen anderer, die Einzigartigkeit und auch die Fremdheit des*r Anderen (Emmanuel Lévinas). 

Dass hierfür ein empathisches, ein lesendes Selbst wichtiger ist denn je, braucht vielleicht hier nicht betont zu werden, soll es aber. Die inneren Welten der Literatur und Kunst fächern mich, fächern den anderen Menschen, das andere Wesen auf, ich erkenne, ich lerne, ich erhalte Einblicke, die mir vielleicht sonst verborgen blieben, lerne Beweggründe zu verstehen, Handlungsimpulse nachzuvollziehen, Gefühlslagen zu antizipieren, Oberflächen zu durchdringen. Lesen bildet den Charakter, banal, vielfach vergessen und gegenwärtig und zeitungebunden umso wahrer. Kinder zum Lesen zu animieren, dafür zu begeistern und bei der Stange zu halten: der ewige, alterslose Impetus21 ist mal wieder wichtiger denn je.

Kultur, Moral und Konsum

Gefühle entwickelten sich, wir entwickelten sie, von dem uralten Set, dessen es in vorzivilisatorischen Umwelten einst bedurfte, um ein Überleben zu sichern, bis heute, angesichts eines komplexen, weder zeitlich noch räumlich ganz zu überblickenden, technologischen, wirtschaftsdominierten Tableaus in einer globalisierten, vielschichtigen, polysprachlichen Gesellschaft, die täglich vor existenziellen, psychologischen und ethischen Herausforderungen steht. Die zunehmen werden. In Umfang und Häufigkeit, angesichts von Klimawandel, Umweltdegradation und Bevölkerungswachstum, von technologischen Möglichkeiten und sozialer Ungleichheit. Fortschritt muss auch emotionaler Fortschritt sein. Rationalität und Emotionalität stehen sich nicht länger diametral gegenüber, Emotionen sind mit kognitiven Inhalten durchdrungen22 und müssen auch damit Schritt halten. (Letztere Erkenntnis spielt nicht zuletzt auch eine Rolle bei der gesetzlichen Altersbeschränkung von Social Media in Australien – für mich eine auch hierzulande wünschenswerte Vorgehensweise.) Erst dann, da sehe ich mich mit dem zeitgenössischen Philosophen Markus Gabriel einig, kann es auch „moralischen Fortschritt“23 geben.

Gabriel geht von einem vertrauensvollen Menschenbild aus, bei ihm ist der Mensch in erster Linie frei und lernfähig. Gabriel ist Neoexistenzialist – er setzt voraus, dass die meisten Menschen frei sind und das auch wollen. Als einziges geistiges Tier ist der Mensch dazu verflucht – und zugleich ist es ihm möglich – sich selbst zu suchen und zu bestimmen. Dieser angeborenen menschlichen Unbestimmtheit begegnet der Mensch zuallererst mit Sprache. In seiner Keynote im ZKM Karlsruhe im März 2019 nennt Gabriel die Sprache den „ersten Entlastungsakt“24. Er führt an, es sei insbesondere die Kultur, die als „Bearbeitung der Unbestimmtheitslücken des Menschen“ diene. Durch Kultur, Theater, Kunst werde das Auftreten von Aggression gemindert – Kulturtechniken (und wieder: Lesen! als eine der grundlegendsten) sind „gewaltreduzierende Projekte“, so Gabriel, sie „neigen zum Guten“. Je mehr Kultur in einer Gesellschaft zugelassen werde, desto freier das Leben in ihr. Hier dockt sogleich die Politik an – denn sie ermöglicht oder erschwert die Kultur und damit die Freiheit der Menschen. Da gewinnen doch die aktuellen Kürzungen im Kulturbetrieb einen noch viel gruseligeren Nachhall.

Als per se soziales Wesen (hier folgt Gabriel Fichte mit seiner Aussage: „Der Mensch ist nur unter Menschen Mensch.") ist jedes Individuum eine Erinnerungskultur seiner selbst, hat Verantwortung der menschlichen und nichtmenschlichen Welt gegenüber, von gestern und morgen. Dabei spielen drei Grundwerte eine Rolle: das Gute, das Böse und das Neutrale. Sie definieren sich über den Begriff der Selbstbestimmung: Das Gute fördert die Selbstbestimmung anderer, das Böse hemmt oder gefährdet sie, und das Neutrale lässt sie unberührt. Auch hier sieht Gabriel eine Aufgabe der Politik. Sie muss das Neutrale schützen, und um das zu schaffen, bedarf es fachlicher Kompetenzen, zu denen die Philosophie verhelfen kann. Kommen die Praktiken der Philosophie „Mentalisierungstechniken“ nahe? Helfen philosophische Reflexionen und deren Einübung bei der Regulierung von Emotionen? Welche Aufgabe für geeignete Rahmenbedingungen kommt hierbei der Politik zu?

Gabriel jedenfalls wünscht sich ein frühestmögliches Erlernen dieser „fachlichen" Kompetenzen. Schon in der Grundschule sollen die Menschen üben zu philosophieren, danach fragen, was der Mensch ist, was das Denken etc. (steht laut Gabriel in Japan, dem Land „der vorauseilenden Deeskalation und gegenseitiger Rücksichtnahme“25 bereits auf dem Grundschulstundenplan). Von der rein emotionalen Reaktion soll also über das Einüben rationalen Denkens (z.B. über die Probleme des Alltags) ein Übergang zum regelgeleiteten Philosophieren stattfinden. Die Gesellschaft als "Gemeinschaft potenziell Dissentierender" (Gabriel) muss an ihrem Fortschritt arbeiten: an einer anderen Umverteilung, größerem gesellschaftlichem Zusammenhalt, der Hoheit über unsere (wahren) Geschichten. Philosophie und Demokratie hängen für ihn eng zusammen: Als Denkpraxis ermöglicht die Philosophie zu üben, das, was man selbst für absolut wichtig hält, erst einmal sein zu lassen bzw. als weniger wichtig einzustufen und anderes zu Wort kommen zu lassen. In der Demokratie herrscht bekanntermaßen der Dissens, es muss eine Opposition geben – so ist wahrscheinlicher, dass wir das Richtige tun. Ein ernsthafter Einsatz für ein gemeinsames Arbeiten an Lösungen, das ist auch dem aktuellen Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier zufolge eine ratsame Reaktion auf den Bruch der Ampelregierung26. Und laut Markus Gabriel sollte schon früh  eingeübt werden, „wie man rational und systematisch moralische Werturteile fällt“27

Weder hat materielle Wohlstandsentwicklung über die westlichen Gesellschaften hinaus umfassend und global um sich gegriffen, noch hat uns das Heilsversprechen von Wachstum und Wohlstand zu selbstverständlicher Zivilisiertheit und geistig-emotionaler Reife erhoben. Die aktuell tobenden und anstehenden Krisen – Klima, Wiederaufwallen von Kriegsgeschehen (Ukraine, Berg Karabach, Gaza etc.), Grenzverstärkungen, Abschottung und Egoismus bzw. Selbstbezogenheit derer, die mit ihren Mitteln den Unterschied machen könnten –, sie alle sprechen eine moralisch ziemlich eindeutige Sprache. Wo fangen wir an, das zu ändern? Was sollte heutzutage mehr eine Rolle spielen, damit wir uns selbst und damit auch andere besser kennenlernen und verstehen können? Meines Erachtens im emotionalen Leben, das wir seit Jahrzehnten mit einer großzügigen und ziemlich unbedachten Geste aus unserem Alltag zu verbannen suchen, um monofokussiert unserem Arbeitsleben und dem gesellschaftlichen Leistungs- und Konsumdiktat nachgehen zu können. 

Während das Patriarchat als emotionale Externalisierungsgesellschaft funktionierte, die Emotionen in weibliche Zusammenhänge und Carestrukturen auslagerte, hat das im aktuellen Leistungsdiktat eine kapitalistisch organisierte Konsequenz: Unsere Emotionen, in der Breite wenig edukativ gepflegt, wenig kultiviert und gewertschätzt, werden kapitalistisch verwurstet und ausgebeutet. Seit Erfindung des Marketing von diesem adressiert und urbar gemacht – und seit Big Data in ungeahntem und beängstigendem Ausmaß so. Der inzwischen speckige Hut, den wir uns immer noch aufsetzen (lassen) sieht so aus: Werbung manipuliert unsere Gefühle und Reaktionen (Stichwort: Consumer Neuroscience), weckt und erfindet Bedürfnisse und Wünsche, und wir willfahren ihr im Konsum. Es gibt wahrlich genug investigative Studien, die die Leichtfertigkeit unserer alltäglichen, Konsum begleitenden Preisgaben offenlegen und warnen28. Emotionen und dadurch getriggertes Verhalten stecken fest im Korsett der Nutzbarmachung, wie so vieles, wenn nicht alles, das unsere kapitalistische Lebensweise sich einverleibt hat.

Die Tuchfühlung mit unseren emotionalen Reaktionen ist also zusehends in den Bereich von Konsum und Unterhaltungsindustrie abgewandert – ausgepowert und überfordert von den täglichen Anforderungen gamen und bingewatchen wir in der heimisch-hyggen Höhle, um uns zu fühlen, anstatt engagiert und interessiert in den sozialen Austausch und die Sinnfrage zu gehen –, währenddessen ist ein elaborierter und geduldiger Umgang mit dem, was wir ins uns vorfinden, Mangelware. Dazu ist zuallererst wichtig, dass der Zugriff auf und der Kontakt mit unseren Emotionen kein Wackelkontakt bleibt. 

Der seit einiger Zeit nun öfter hörbare Ruf nach Medienkompetenz schon in jungem Alter ist nicht zuletzt auch ein Schrei nach Edukation im Umgang mit den Heilsversprechen der produktiven Industrie und letztlich nach emotionaler Kompetenz: Die im Marketing aufgebauten Bilder unserer vermeintlichen Erstklassigkeit, unseres Glücks und unserer steten Heiterkeit überrollen uns alltäglich. Wir sind nicht dieses strahlende, unbeschwerte, unabhängige, leichtlebige Ideal unserer selbst, wir sind leidgeprüft und belastet, in vielen Hinsichten unwillig und herausgefordert, schwerfällig und auf das Verständnis und das Mitgefühl anderer angewiesen, wir lechzen nach Anerkennung und Interesse, sehnen uns nach Zuneigung und Gleichklang im moralisch Richtigen.

Wie können wir an unserer eigenen Emotionalität lernen und wachsen? Wie unsere Impulskontrolle und Regulationsfähigkeit von klein auf kultivieren, um nicht jeder Regung der Gier und des Verlangens nachzugeben, jeder Aufwallung von (durch Besitztum noch geförderten) Chauvinismus und Dünkel, zu der uns der Kapitalismus seit Jahrzehnten erzogen hat und in die der Populismus uns, Lebenswirklichkeiten simplifizierend, weiter drängt? Wie können wir uns wieder als Bürger*innen begreifen statt als Konsument*innen? Wieder mehr „sein“ als „haben“? Wie können wir eine der Ehrlichkeit verschriebene Schule der Empathie und der Vernunft errichten, in der wir spätestens als Erwachsene zu mündigen Bürger*innen und Skeptiker*innen gegenüber politischer und marketenderischer Ideologie und Lobbyrhetorik werden? Emotionalität nicht auszuschließen, sie aber kennenzulernen, zu formen, sie (auch rational) zu durchdringen und zu modifizieren, sie zu einer gewissen Reife zu bringen, um gerade nicht von jedem Marketingtrick und jeder Propaganda aus „vernünftigen“ Bahnen geschleudert zu werden? „Verhindert man, dass junge Menschen lernen, Affekte zu erkennen und zu reflektieren,“ so Hüther, „eignen sie sich später als Objekte für emotional manipulative Strategien.“29 Demgegenüber bildet sich jedoch – im Umgang und in der Auseinandersetzung mit dem emotionalen Haushalt das Gefühl für die eigene Würde heraus.

Ansätze zur „maintenance“ im emotionalen Haushalt

Die Universität Konstanz arbeitet schon vielfach mit KI und setzt sie in der Linguistischen Analyse ein, um öffentliche Texte wie politische Reden und Parteiprogramme auf ihren emotional-manipulativen Ansatz hin zu untersuchen30. Auch Zeitungsartikel und ihr Wording werden unter die Lupe genommen, um „Sentiment Analysen“31 zu betreiben und das „Framing“ von Sachverhalten und Begriffen bewusst und erfassbar zu machen. Sprachliche Hinweise (cues) werden gesammelt, um unterschiedliche Kommunikationsstrategien der politischen Parteien, sprachstrukturelle Fragen zur Satz- und Wortschatzkomplexität, kooperative und unkooperative Kommunikation sowie Diskursstrategien der Mächtigen und Machtlosen zu untersuchen. Das dient dem Schauen, inwieweit die Sprache staatlicher Stellen mit der Sprache der Bürger*innen übereinstimmt. Die Ergebnisse wären für eine breite Öffentlichkeit interessant und dazu passende rhetorische Analyseskills für alle ein Gewinn. Die Uni Konstanz investiert auch wirklich in ihre wissenschaftliche Kommunikation, zum Beispiel mit der Veröffentlichung ihres In_Equality Magazins, einem halbjährlichen Forschungsmagazin des Clusters, das laut eigener Devise „wissenschaftlichen Anspruch mit der Zugänglichkeit und dem professionellen Design einer Sachzeitschrift für die interessierte Öffentlichkeit“ verbindet.32
Auch die umtriebige, gegenwärtig vielgeschätzte Moderatorin und Wissenschaftlerin Mai Thi Nguyen-Kim hat sich schon mit dem Thema Manipulation befasst und nimmt Verschwörungsmythen und emotionale Instrumentalisierung unter die Lupe – unbedingt empfehlenswert dazu ihre ZDF-Sendung vom Februar 202433 (erhältlich in der Mediathek bis Februar 2029). 

Doch die „Nutzbarmachung“ von Gefühlen kann auch über die Dekonstruktion hinaus oder dieser begegnend positive, fruchtbare Aspekte beinhalten. In ihrem bedeutenden Buch „Politische Emotionen“ weist die Philosophin Martha Nussbaum darauf hin, dass erfolgreiche gesellschaftliche und politische Führungsfiguren, die prodemokratische Umbrüche und gesellschaftlichen Wandel anregten, sich der Bedeutung einer Kultivierung von Gefühlen immer bewusst waren. Menschen wie M. L. King oder Gandhi verstanden es, die Einstellungen der Menschen zu Solidarität und Menschenwürde zu aktivieren, zu fördern und nutzbar zu machen und damit in den Dienst des Gemeinwesens und des moralischen Fortschritts der Menschen zu stellen. In zahlreichen Werken und Kooperationen hat Nussbaum dieses Konzept eruiert, verfeinert und vorangebracht. Sie ist in unseren „westlichen“ politischen Eliten damit bislang auf wenig praktisches Anwendungsinteresse gestoßen. Dabei könnte die aktuelle politische Brisanz ihrer Themen offensichtlicher kaum sein. So stellt sie schon in der Einleitung zu „Politische Emotionen“ fest, dass eine demokratische Gesellschaft „sich auf die Förderung und Pflege von Gefühlen konzentrieren“ muss. Überlässt man „die Prägung von Gefühlen antiliberalen Kräften, erlangen diese einen gewaltigen Vorsprung bei der Gewinnung der Herzen der Menschen“34 – wie das auch hierzulande gerade mit den AFD Wahlgewinnen in Thüringen und Sachsen eingetreten ist und weiter Fahrt aufnimmt (man blicke auch z.B. nach Frankreich, Italien, in die USA).
Auch wie genau eine politische Führung dies angehen und was dabei zu meiden wäre, und wo Vorsicht walten müsse – all das können am zwischenmenschlich wertschätzenden Umgang und demokratischen Werten orientierte Politiker*innen in dieser Publikation finden. Nussbaum fragt danach, wie „eine öffentliche Gefühlskultur“ die Bindung an Normen wie Achtung vor allen Menschen und andere „gute politische Prinzipien“ stärken kann.35 Der Staat, so ihre Antwort, muss „dazu beitragen, dass die Menschen sich an diese Ideale gebunden fühlen und für sie eintreten. Mitgefühl und Zuneigung können und sollen primär gefördert werden, um ein Engagement der Bürger*innen für die guten Projekte zu schaffen und aufrechtzuerhalten, „Schutzmauern gegen Spaltungen und Hierarchien“ durch die Förderung und Aufrechterhaltung von „Emotionen wie Mitgefühl und Pflege“ errichtet werden. Auf der negativen Seite sollte „die Neigung, das fragile Ich durch die Herabsetzung und Diffamierung anderer“ möglichst in Schach gehalten werden.36 Nussbaum legt der Politik ans Herz, öffentlich wirksam Aussagen und Konzepte zu einer „psychologischen Verfaßtheit [sic] einer guten Gesellschaft“ zu suchen und zu finden37.

Der 2019 erschienene didaktische Sammelband von S. Frech und D. Richter schlägt in die gleiche Kerbe. Die Erkenntnis: „Emotionen im Politikunterricht“ sind inzwischen „eine relevante fachdidaktische Kategorie“. Neben einer rationalen bedürfe es auch einer emotionalen Schulung. Denn „Gefühle, Stimmungen und Affekte beeinflussen politische Erkenntnis- und Urteilsprozesse gleichermaßen.38“ Das Buch konstatiert zwar, dass inzwischen wieder mehr über Emotionen gesprochen werde, dass in der politischen Bildung zahlreiche Publikationen und Tagungen dazu stattfänden, bemängelt jedoch nach wie vor die Bewertungsweise von Emotionen (Anja Besand in ihrem Beitrag). Statt der „politischen Forderungen und Entscheidungen, die mit ihnen verbunden und begründet werden“39 würden Emotionen bewertet.

Hier schließen direkt Überlegungen aus dem Umweltdenken an. Ein Deep-Dive Paper des Club of Rome rund um Jamie Bristow erforscht die intrinsischen Strukturen und Zusammenhänge, die externen Sachzwängen und Pfadabhängigkeiten gegenüberstehen.40 Die innermenschlichen Dimensionen eines möglichen ökologisch-sozialen Systemwechsels werden untersucht und eine Sprache wird gesucht, um psychologische, soziale und spirituelle Faktoren für die Grundlagen nachhaltiger Lösungen fassbar zu machen. Um Barrieren einer inneren Einstellung zu überwinden und kollektive Aktionen und strukturelle Transformation möglich zu machen und dem Leben in Wert und Möglichkeiten wieder zuzuarbeiten, werden Weltsichten, Denkweisen, Wertvorstellungen und Identitäten als Impulsgeber kulturellen Verhaltens sowie ihr Ineinandergreifen mit psychologischen und Verhaltenstendenzen41 in Betracht gezogen und analysiert. Wie Markus Gabriel sieht auch der Club of Rome die gesellschaftlich anzustellende Überlegung als bedeutsam an, was für ein gutes Leben wichtig ist und was obsolet bzw. verzichtbar:

Das Gemeinschaftswerk einer öffentlichen Diskussion und Einbeziehung gesellschaftlicher Ideen und Vorschläge muss stattfinden, an deren Ende eine Utopie steht: eine mehrheitsfähige Vision dessen, wie die Menschen leben wollen. Wie gutes Leben, das weiterhin auf diesem Planeten und innerhalb seiner Grenzen möglich sein soll, aussehen kann und soll. Die aktuell verbreitet gefühlte Alternativlosigkeit muss aufgebrochen werden, der Klammergriff des Kapitals und der Profitorientierung muss zugunsten von gesellschaftlichem Wohlergehen und lebensdienlichen Werten gelöst werden.42

Es gibt durchaus schon ein Bewusstsein dafür, dass bei der Beschäftigung mit den vielen Krisen unserer Zeit, allen voran der Klimakrise, überfordernde Gefühle entstehen können. Und es gibt eine Organisation, die bei der Bewusstwerdung und Bewältigung helfen will: Die 2019 gegründete Bewegung der Psychologists / Psychotherapists for Future besteht aus „Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen, die ihr psychologisches und therapeutisches Fachwissen in den Umgang mit der Klimakrise und zur Förderung einer nachhaltigen Zukunft einbringen. Dazu gehört, das Bewusstwerden der Klimakrise, den emotionalen Umgang damit und konstruktives Handeln im Umgang mit der Klimakrise zu fördern, sowie Klima-Engagierte und -Gruppen zu unterstützen.“43 Die Bewegung will Menschen aufklären, ihnen bei ihren „Klimagefühlen“ zur Seite stehen aber auch sozial-ökologischen Wandel voranbringen. Eine Nähe zum Aktivismus kann dieser Bewegung also nachgesagt werden, sie steht dazu. Es ist übrigens auch eine dem Aktivismus entlehnte Weisheit, dass ohne Emotionen keine gesellschaftliche Transformation gelingen kann (siehe dazu auch Martha Nussbaums Analyse der die Massen inspirierenden Ausdrucksweisen Gandhis und M. L. Kings). Sie haben nicht zu überschätzenden Anteil an Impulsen, Haltungen und Kernprinzipien gewaltfreier historischer und zeitgenössischer Konflikte: massenhaft demonstrative Ausbrüche der Unzufriedenheit, moralische Entrüstung, gefühls- und symbolisch aufgeladene Ansprache, Methoden der Disruption und Nichtkooperation zeugen von der emotional-rationalen Durchdrungenheit der Ausübenden gewaltfreien Widerstands, die in der Vergangenheit schon oft soziale Krisen hervorrufen konnten, um überfällige gesellschaftliche Transformationen durchzusetzen. Dazu gehören beispielsweise M. L. Kings Mobilisierungen gegen die Rassentrennung, Gandhis Salzmarsch, die ACT UP-Demonstrationen für einen anderen Umgang mit Aids und OTPORs „kreativer“ Sturz des Machthabers Slobodan Miloševićs mithilfe vieler, ja satirischer Aktionen44

Felix Heidenreich analysiert in einem Aufsatz die Versuche, nach Inhalt und Ursprung politisch wirksamer Emotionen zu unterscheiden. Er kommt zu dem Schluss, beide seien als Perspektiven wenig nutzbringend45. Beide könnten zu einer (undemokratischen) Emotionalisierung der Bevölkerung durch Eliten führen, in der direkten Schlussfolgerung wäre ein emotional neutraler Staat also am ehesten zu bevorzugen. Letztlich gelangt Heidenreich mit Jürgen Habermas und Axel Honneth zu einer durch das Recht zu be- oder entkräftigenden Emotionalität. Das diesem Blogeintrag nicht widersprechende Ziel Heidenreichs im demokratischen Rahmen ist die „Produktion, Reflexion und Zivilisierung von Gefühlen“. Anstatt diese Forderung jedoch nur wieder dem Individuum zuzuschieben, wie im Fall einer Minderung des ökologischen Fußabdrucks – eine Unzumutbarkeit, die auch kaum zu den gewünschten Änderungen führen wird, wie Hennicke et al. in ihrem neuen Buch ausarbeiten46 – kann der an demokratischen Verhältnissen interessierte Staat durchaus fördernd und fordernd seinen Teil dazu beitragen, Orientierung zu schaffen und „die zentrale Bedeutung des Rechts als Medium der Kanalisierung und Sublimierung von Gefühlen, ja der Transformation emotionaler Äußerungen in Argumente und schließlich Institutionen47“ zu verbreiten und zu befördern.

Statt die Aufmerksamkeit in unseren gesellschaftlichen Diskursen den ewigen kapitalistischen Impuls- und Taktvorgaben zu widmen, wird es endlich wieder Zeit, die emotionale Sinnfrage zu schulen und zu stellen: Denn zu viele Wahrheiten sind davon durchzogen und zu viel gibt es zu verlieren, wenn wir auf diesem Auge blind sind. Es muss (verstärkt) weitergehen mit der Bewertung, Einordnung und Hinterfragung, vor allem aber mit der Berücksichtigung unserer Privilegien, Wertvorstellungen und: unserer Empfindlichkeiten.

Fußnoten:

[1] Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft. 2015. [https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/_Ministerium/Beiraete/agrarpolitik/GutachtenNutztierhaltung.html; 10.12.2024]

[2] Siehe dazu auch die Recherchen von B. Wittmann im Agrarmilieu. Barbara Wittmann. Intensivtierhaltung. Landwirtschaftliche Positionierungen im Spannungsfeld von Ökologie, Ökonomie und Gesellschaft. Vandenhoeck & Ruprecht, 2021. S. 340 ff.

[3] Robert C. Roberts: „Emotionen. Ein Essay zur Unterstützung der Moralpsychologie“. In: Philosophie der Gefühle. Herausgegeben von Sabine A. Döring. Suhrkamp, 2009. S. 273.

[4] Jesper Juul. Aggression. Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist. Fischer, F. a. Main, 2020. S. 13.

[5] Ebd.

[6] Vgl. G. Hüther., U. Hauser: Jedes Kind ist hochbegabt. btb. München, 2014.

[7] Interview mit Gerald Hüther. 2018. [https://www.zukunftsinstitut.de/zukunftsthemen/wer-ein-bewusstsein-seiner-eigenen-wuerde-entwickelt-hat-ist-nicht-mehr-verfuehrbar; 27.12.2024]

[8] Gut erklärt im Blog der Psycho- und Familientherapeutin Corinna von der Mühlen. [https://teamwerk-familie.de/was-ist-co-regulation-im-wutanfall/; 27.12.2024]

[9] Gabriele Haug-Schnabel, Joachim Bensel. Grundlagen der Entwicklungspsychologie. Die ersten 10 Lebensjahre. Verlag Herder. Freiburg im Breisgau, 2017. S. 53.

[10] Haug-Schnabel, Bensel. 158f.

[11] Claudia Wiggenbröker. Darum können manche Menschen mit ihren Gefühlen nichts anfangen. 2021. [https://www.quarks.de/gesellschaft/psychologie/alexithymie-darum-koennen-manche-menschen-mit-ihren-gefuehlen-nichts-anfangen/; 27.12.2024]

[12] Jesper Juul. Aggression. S. 25.

[13] Philosophie Magazin Nr. 02/2023, Heftfolge 68. „Soll ich meiner Intuition folgen?“ Editorial.

[14] Das sieht Gerald Hüther ähnlich: „Lernen ist individuell, folgt subjektiven Bewertungen, muss emotional aufgeladen sein und erfolgt in einem sich selbst organisierenden Prozess.“ Vortrag „Selbstorganisiertes Lernen“. 2012. [https://www.gerald-huether.de/mediathek-page/populaerwissenschaftliche-beitraege/inhaltliche-uebersicht/lernen/#:~:text=Lernen%20ist%20individuell%2C%20folgt%20subjektiven,alle%20Lernprozesse%20diesen%20Grundprinzipien%20folgen.; 27.12.2024]

[15] Vgl. Haug-Schnabel/Bensel. S. 161f.

[16] Zitiert nach: Streitbörger, Wolfgang. Weg von Wut und Hass. Die seelische Selbstvergiftung überwinden. 2023. [https://www.deutschlandfunkkultur.de/wut-und-hass-der-seelischen-selbstvergiftung-entkommen-100.html; 27.12.2024]

[17] Lexikon der Neurowissenschaft: Dehumanisiserung. [https://www.spektrum.de/lexikon/neurowissenschaft/dehumanisierung/14428; 27.12.2024]

[18] Anton Friedrich Koch. Wir sind kein Zufall. Die Subjektivitätsthese als Grundlage eines hermeneutischen Realismus. In: Der neue Realismus. Hg. Von Markus Gabriel. suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2099. 3. Aufl. 2015. S. 232.

[19] Ebd. S. 232f.

[20] Martin Scherer. Gibt es unzeitgemäße Ideale und Gefühle? 2023. [https://www.deutschlandfunk.de/gibt-es-unzeitgemaesse-ideale-und-gefuehle-gespraech-mit-martin-scherer-dlf-059e0f71-100.html; 27.12.2024]

[21] Christoph Biemann. Buchstabenzauber – Wie Sie ihr Kind fürs Lesen begeistern. Mosaik Verlag, 2019.

[22] Vgl. dazu auch den Aufsatz von Felix Heidenreich: „Gefühle ins Recht setzen: Wann sind politische Emotionen (noch) demokratisch? In: Zeitschrift für Politikwissenschaft. 23. Jahrgang (2013), Heft 4, S. 575-583.

[23] Markus Gabriel. Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert. Ullstein Verlag, 2021.

[24] Keynote „Digitalität und Verantwortung in Kulturinstitutionen“ im ZKM Karlsruhe im Rahmen der Konferenz „Digitalität und Verantwortung". 22. März 2019. [https://mwk.baden-wuerttemberg.de/de/service/media/mid/digitalitaet-und-verantwortung-keynote-markus-gabriel, 27.12.2024]

[25] Christoph Peters. Das Sumimasen-Prinzip. In: Philosophie Magazin. Sonderausgabe 20. Januar/April 2022.

[26] „Es ist jetzt an der Zeit, dass das Problemlösen wieder zum Kerngeschäft von Politik wird." Rede F. W. Steinmeier. 27.12.2024. [https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2024/12/241227-Entscheidung-Aufloesung-BT.html; 28.12.2024]

[27] Markus Gabriel. Keynote ZKM.

[28] Z.B. die ARTE-Dokumentation „Überwachung Total“ von Alexandre Valenti, 2015. [https://www.youtube.com/watch?v=NwNWDBVoZA4; 28.12.2024]

[29] Interview mit Gerald Hüther. 2018. [https://www.zukunftsinstitut.de/zukunftsthemen/wer-ein-bewusstsein-seiner-eigenen-wuerde-entwickelt-hat-ist-nicht-mehr-verfuehrbar; 27.12.2024]

[30] In_equality magazin N° 5. „Information, Sprache, Macht". Juli 2023. [https://www.uni-konstanz.de/broschueren/inequality-magazin/5/; 27.12.2024]

[31] Deren Ursprung liegt in kommerziell ausgerichteten Anwendungen zur Analyse von Kundenrezensionen.

[32] [https://www.exc.uni-konstanz.de/ungleichheit/forschung/publikationen/in-equality-magazin/; 28.12.2024]

[33] MAITHINK X – Die Show. Folge 31. „Wie populistische Politiker uns verarschen“. 18. Februar 2024. [https://www.zdf.de/show/mai-think-x-die-show/maithink-x-folge-31-populismus-100.html; 11.12.2024]

[34] Martha C. Nussbaum. Politische Emotionen. Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist. Suhrkamp, 2014. S. 12f.

[35] Ebd. S. 19.

[36] Ebd. S. 13f.

[37] Ebd. S. 15.

[38] Siegfried Frech, Dagmar Richter (Hg.). Emotionen im Politikunterricht. Wochenschau Verlag, 2019. Vorwort.

[39] Anja Besand. Politische Bildung und emotionale Pathologien. In: Ebd. S. 89.

[40] Club of Rome. „The System Within: Addressing the Inner Dimensions of Sustainability and Systems Transformation“, 2024. [https://www.clubofrome.org/wp-content/uploads/2024/05/Earth4All_Deep_Dive_Jamie_Bristow.pdf; 27.12.2024]

[41] „[W]orldviews, mindsets, values and identity as root drivers of cultural behaviour, their interaction with psychological and behavioural tendencies“. Ebd. Abstract.

[42] Peter Hennicke, Benjamin Best, Anja Bierwirth, Dieter Seifried. KlimaGerecht. Warum wir die ökologische und soziale Fragen radikal verbinden müssen. oekom verlag. Kapitel 6. Im Erscheinen. (ET: 06.03.2025)

[43] Stellungnahme der Psychologists/Psychotherapists4Future. [https://www.psy4f.org/stellungnahme/; 28.12.2024]

[44] Anschaulich und spannend geschildert in dem kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch „Dies ist ein Aufstand. Wie gewaltfreier Widerstand das 21. Jahrhundert prägt“ von Mark und Paul Engler. oekom, 2024.

[45] Felix Heidenreich. Gefühle ins Recht setzen: Wann sind politische Emotionen (noch) demokratisch? In: Zeitschrift für Politikwissenschaft. 23. Jahrgang (2013), Heft 4. S. 575-583.

[46] Hennicke et al. KlimaGerecht.

[47] Heidenreich, 2013.