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Als eine der größten Herausforderungen unserer Zeit betrachte ich die Aneignung einer kritischen Denkweise. Natürlich ist mir sonnenklar, dass ich nicht die erste bin, die diese Ansicht vertritt: Kritische Geister sind so vielfältig wie die Zeit (glücklicher Weise) lang ist, seit der es sie gibt.

Und doch scheint ihre öffentliche Gegenwart zurückzugehen, scheinen ihre Präsenz abzunehmen und ihre Stimmen den allgemeinen Kampf um Glaubwürdigkeit zu verlieren. Angesichts einer internationalen Zunahme diktatorischer Tendenzen, angesichts von immer mehr Propaganda und Marketing, das inzwischen so gut wie alle Lebensbereiche patiniert, sind die kritischen Geister (aus welchen Gründen auch immer, mit oder ohne Zwang von außen) in der öffentlichen Wahrnehmung immer weiter nach hinten abgewandert und zum Beschäftigungsvergnügen für akademische Spezialisten geworden. Dabei kann eine menschliche Gesellschaft auf sie niemals verzichten. Sie machen auf Missstände aufmerksam, zerren ethisch Fragwürdiges ans Tageslicht und exponieren Zusammenhänge dem öffentlichen Bewusstsein, ohne dessen Aufmerksamkeit Macht schnell zur Willkür werden oder zum (Selbst-)Kontrollverlust führen kann.

Niemals, kommt mir vor, waren wir quantitativ umfassenderer Suggestion ausgesetzt als heute: Denn niemals waren Interessen so gut vernetzt, medial repräsentiert und methodisch elaboriert. Werbung, Ideologien und Interessensvertretungen bzw. Lobbyisten spielen die Klaviaturen der Außenwirkung und der Suggestion rauf und runter. Hat uns nicht vielleicht die omnipräsente Werbung mit ihren Euphemismen erst so überaus „empfänglich“ gemacht? Hat sie nicht zur Gedankenlosigkeit, ja zur Nachlässigkeit beigetragen, mit der wir uns zu neuen Produkten und Käufen verleiten lassen? Uns z.B. en passant das neueste Gadget aufschwatzen lassen, uneingedenk und in Unkenntnis der gesamten Hintergründe seiner Entstehung. Manchmal aus Ignoranz, aus Mangel an Interesse, oft jedoch aus absichtlicher Verweigerung dem vielteiligen Entstehungsprozess eines Produktes gegenüber, ja insgesamt aus Angst vor Komplexität.

Eine hochgradig teuer erkaufte Nachlässigkeit. Sie geht auf Kosten der Umwelt und der Arbeitskraft, die der Ausbeutung anheimgegeben werden, um unserer westlichen Bequemlichkeit zu huldigen und Kapital zu generieren; sie geht auch auf Kosten der nüchternen Wahrheitsliebe und strickt an der Illusion des käuflich erwerbbaren Paradieses. Und zuletzt kommt sie erneut Umwelt und Lebensformen teuer zu stehen, denn die allzu häufige (durchaus auch gewollte) Kurzlebigkeit der Produkte entwertet diese rasant und verwandelt sie in Abfall, der sich immer weiter und weiter auftürmt.

Kenntnisse, Informationen, Zusammenhänge, Verständnis waren schon immer wichtig und werden immer wichtiger. Natürlich: Man muss und man kann nicht alles wissen. Aber man darf auch keineswegs alles glauben. Und je mehr man weiß, gehört hat, gelesen, desto schwieriger gestaltet es sich für religiöse, politische, mediale Meinungsmacher, einem ein X für ein U vorzumachen. 

Nicht sich alles leisten zu können macht frei: hinterfragen zu können, Ungereimtheiten zu bemerken, Suggestion zu entlarven. So lehrte auch einer der kritischsten Geister des vergangenen Jahrhunderts, Theodor W. Adorno, dass intellektuelle und damit wirkliche Freiheit nur unter der Anstrengung zu erreichen ist, der Suggestion zu widerstehen. Ich verstehe darunter, sich der Komplexität zu öffnen, sie anzuerkennen: Das ist der erste Schritt. Sie nicht zu fürchten, und bereit zu sein, ein Leben lang zu lernen: Unabdingbar angesichts des sich stets multiplizierenden Menschheitswissens. 

Die Anerkennung von Komplexität, die nicht immer auf den ersten Blick einsehbar ist, schafft auch das geistige Umfeld für Offenheit und Toleranz. Es ist also letztlich eine Geisteshaltung, die mit Bildung einhergeht (keiner Abrichtung auf den Arbeitsmarkt), die einen vor Manipulation und Leichtgläubigkeit bewahrt und vor verfrühten Urteilen schützt, über die mit anderen zu streiten schnell zu Eskalationen und Verhärtungen führen kann.

Dazu können wir ebenfalls viel von Adorno lernen. Seine Deutungen sind nach wie vor wahr und anregend, so z.B. die nicht nur im Hinblick auf IS und Konsorten schrecklich aktuell anmutende Kernfrage der „Dialektik der Aufklärung“ (erste endgültige Fassung erschien 1947): „Warum versinkt die Menschheit in einer neuen Art von Barbarei, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten?“ 

Die Wahrscheinlichkeit, etwas zur Beantwortung dieser Frage beizutragen und damit zu ihrer künftigen Obsoleszenz, und nicht stattdessen die Notwendigkeit zu nähren, sie zu stellen, steigt mit der Fähigkeit zum kritischen Denken und zum Widerstand gegen die omnipräsenten Kräfte der Suggestion.