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Gastfreundschaft ist relativ.
Auch Odysseus, der schönste und klügste der Griechen, wie es bei Gustav Schwab so überschwänglich heißt, konnte sich ihrer in den seltensten Fällen sicher sein.

Seine Irrfahrten konfrontieren ihn mit dem Zyklopen Polyphem, der seine Genossen vor Odysseus Augen auffrisst; mit den Lästrygonen, die ihnen ebenfalls kannibalisch an Leib und Leben wollen; die Göttin Kirke verwandelt alle unfreiwilligen „Gäste“ ihrer Insel in Schweine und anderes Getier; die Sirenen bringen Odysseus Mannen beinahe das musikalisch eingeleitete Verderben und das hundeähnliche Monster Skylla dezimiert die Besatzung, während der Meeresstrudel Charybdis Odysseus Schiff beinah ganz verschlingt, mitsamt Masten und Segeln. Und auch auf des Sonnengottes Insel Thrinakia, auf dem die Übrigen von Odysseus Männern eher Hungers sterben sollen, als sich an den Rindern des Gottes zu vergreifen, ist alles andere gegeben als ein freundlicher Empfang. Zwar rettet letztlich Kalypso den Vereinsamten nach all seinem Elend aus den Fluten und peppelt ihn auf ihrer Insel Ogygia wieder hoch, aber nur, weil sie einen Narren an ihm gefressen hat und ihn zum Gemahl haben will.

Auch andernorts, zum Beispiel bei den Phäaken, wo Odysseus freundlich empfangen und fürstlich bewirtet wird, sowie die Gesellschaft „klug“ plaudernder Männer erhält - muss er im Gegenzug das Seinige beisteuern, in diesem Fall: seine Geschichte. „Quid pro quo“ lautet die Devise, und das mit einer charakteristischen Selbstverständlichkeit - denn jeder hat schließlich etwas zu geben, und sei es gerade nichts von monetärem Wert, von dem er unter Umständen ohnehin nichts besitzt, da er sich zum Beispiel auf der Flucht befindet oder auf der Rückkehr nach überlebtem Krieg - eben auf oft genug mit letzter Kraft gestemmter Heimreise.

Wenn man daher, wie Telemach, der in der Fremde weilt, eilig nach Hause will (weil er durch die sympathisierende Göttin Athene Andeutungen von seiner unter dem immer schwereren Freierandrang bald einknickenden Mutter und von der Heimkehr seines Vaters Odysseus vernommen hat) verzichtet man unter Umständen sogar auf sein Gastrecht (!) oder den gastfreundlichen Empfang bei Nestor, dem guten Freund des Vaters: Wird man doch nicht nur versorgt, sondern muss auch sein individuelles Tribut an Höflichkeit und Liebe entrichten und zur Zerstreuung und zur Erbauung des Gastwirtes beitragen.

Jemanden aufzunehmen und mit dem Nötigsten zu bewirten, damit ist es nicht getan. Erst im Gegenzug etwas zurück zu wollen, und zwar genau das, was dieser Jemand zu geben hat - seine Geschichte, die ihn als Einzelnen ausmacht und die er freiwillig, vielleicht stolz, vielleicht wehmütig, erzählen möchte, vielleicht sogar für das eigene Seelenheil erzählen muss (sogar Lügen werden von Odysseus akzeptiert, als er auf seiner Heimatinsel Ithaka verkleidet bei seinem Sauhirten vorstellig wird, der in dem Bettler seinen eigenen Herrn nicht erkennt) - das verhilft der Gastfreundschaft zu ihrem mit Respekt verbundenen Ansehen. Es adelt nicht nur den Geber, weil er den ankommenden Mittellosen aufnimmt und versorgt, sondern auch den Ankommenden selbst, der seine Individualität und seine Erfahrungen mitbringt und damit wiederum andere bereichern kann.

Die Bereitschaft zuzuhören, das Interesse am Anderen, der immer seine Gründe dafür hat, bei mir gestrandet, angekommen zu sein, sind es, die den Gast sich willkommen fühlen lassen, und die das Gastrecht zu einem gegenseitigen, respektvollen und letztlich für beide Seiten gewinnbringenden Akt machen. Natürlich darf man nicht vergessen, dass Odysseus den Zorn des Meeresgottes Poseidon auf sich gezogen hat, indem er den Zyklopen Polyphem blendete, einen von Poseidons Söhnen (auch die Sache mit der Instrumentalisierung des für Poseidon heiligen Pferdes im Trojanischen Krieg nahm dieser ihm übel). Dafür sollte Odysseus mit einer - den Horror verharmlosend - äußerst holprigen und gefahrenvollen, eine halbe Ewigkeit dauernden (Heim-)Reise bestraft werden.

Was im mythologisch konditionierten Griechenland allerdings noch für göttlichen Zorn gehalten werden konnte, kann heute, bei gegebener säkularer Aufgeklärtheit oder auch bei gering ausgeprägtem Fatalismus als Unbill des Lebens, der blinden Natur, ja als Zufall gedeutet werden. Dennoch büßt es nichts vom Schrecken seiner Willkür ein, denn man hat eben das Glück, in Wohlstand und Frieden geboren zu werden und zu leben, oder eben nicht. William Blake trifft in seinen „Auguries of Innocence“ den Nagel (seherisch) auf den Kopf:

„Some are Born to sweet delight 
Some are Born to Endless Night“

Wer sich heute auf die ein oder andere Irrfahrt aufmacht, sich auf die Suche begibt nach einem verlorenen oder nie gehabten besseren Leben oder einfach nach der Abwesenheit von Krieg, flieht in unserem westlichen Verständnis selten den Zorn Gottes. Aber so, wie die griechischen Völker gleich wussten, worum es ging, wenn von göttlichem Zorn oder dessen Gegenteil, dem göttlichen Begleitschutz die Rede war, so könnten wir uns heute im reichen Europa auch auf gemeinsame Wurzeln, Entwicklungen und Ideale besinnen: Und uns vor Augen rufen, was nicht nur für uns gilt, nämlich, dass niemand ein Leben verdient hat, in dem er Zwängen wie Verfolgung, Krieg oder anderen unwürdigen Existenzbedingungen ausgesetzt sein muss.

Und das sind nunmal die meisten, die ihre Heimat für mehr Frieden und Lebensqualität verlassen - sie tun es in den seltensten Fällen freiwillig. Denn wie auch Odysseus bei Gustav Schwab über seine karge Heimat, die Insel Ithaka, bemerkt (natürlich nicht ohne die für Schwab so charakteristische Empfindungsglut): „Meine Heimat ist zwar rauh, doch nähret sie frische Männer; und das Vaterland ist einem jeden das Süßeste.“