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„What I took in my hand
grew in weight.
You must understand:
it was not obscene.“

Diese beschwörenden Zeilen bilden eine Stelle aus dem Gedicht „Song“ von Robert Creeley, das seinem Band <For Love> von 1962 entnommen ist.

„Was ich in die Hand nahm
wurde groß. 
Du musst verstehen: 
Es war nicht obszön.“

(eigene Übersetzung)

Robert Creeley ist ein 1926 in Arlington, Massachussetts, USA, geborener Dichter und Schriftsteller, der leider zu den in Deutschland weniger rezipierten modernen Poeten zählt, obzwar er in den Vereinigten Staaten als Berühmtheit gilt und in den illustren Kreisen auch hierzulande bekannter Koriphäen wie Alan Ginsberg und Gary Snyder verkehrte - die sein Schreiben übrigens sehr schätzten.

Seine Hinterlassenschaft (er starb im Jahre 2005) wird von seinen Erben genauso liebevoll verwaltet und umsichtig der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, wie von verschiedenen bedeutenden Institutionen und Verlagen. So bietet die Stanford Universität in Kalifornien die Sammlung „Robert Creeley's Papers, 1950-1997“ an, und die University of Notre Dame hat seine mit persönlichen Erinnerungsstücken versehene private Bibliothek, die „Robert Creeley Library“ erst kürzlich in ihre Bestände integriert.

Inhaltlich schreibt Robert Creeley vorwiegend entlang alltäglicher, persönlicher, ja intimer sowie emotionaler Themen: Liebe und Freundschaft, Familieninterna und Alltägliches, Gefühlsprozesse und -zustände, sowie die Auseinandersetzung mit geistigen Riesen seiner Zeit und Vorzeit sind für ihn genauso Aufhänger wie der menschliche Alterungsprozess, soziale Isolation und Krankheit: Der Tod ist Creeleys ständiger imaginativer Begleiter, Damoklesschwert und Sinnstifter in einem.

Creeleys leise, formal oft stockende, manchmal gar verstummende, inhaltlich stets verwundbare, exponierte Lyrik nimmt weder ein Blatt vor den Mund, noch verschleiert sie: Ehrlichkeit ist ihr das größte Anliegen. Unverstelltheit und Unverblümtheit bis ins Schmerzliche. Doch ist sie keine Lyrik des Knalleffekts - sie bleibt im um Artikulation ringenden Subjekt zu Hause. Creeleys Selbstbezogenheit ist von leiser Wucht: in seinen alltäglichen Betroffenheiten, die plötzlich tiefe Gefühle offenbaren. Dabei fürchtet er weder, dem Profansten seine Aufmerksamkeit zu widmen, noch dem Intimsten. Er versucht, das flüchtige emotionale Leben festzuhalten, sowie das, was es zuallererst konstituiert.

So gipfeln viele seiner von äußeren Dingen und Bezügen ausgelösten Empfindungen und Überlegungen in philosophisch-poetischen Fragestellungen, in denen gerade seine Selbstbezogenheit das rettende Standbein ist: Sie stützt sich auf das einzige, was der Mensch mit für sich größerer Sicherheit (denn auch diese ist nie vollkommen) behaupten kann - die subjektive Wahrheit des „cogito (et sentio) ergo sum“. 

Beispielsweise in dem Gedicht „The Flower“ (ebenfalls aus Robert Creeleys Gedichtband <For Love> von 1962):

Die Blume (The Flower)

Ich glaub' ich züchte Spannungen 
wie Blumen 
in einem Wald in den 
niemand geht.

Jede Wunde ist vollkommen, 
schließt sich ein in eine winzige 
nicht wahrnehmbare Knospe, 
verursacht Schmerz.

Schmerz ist eine Blume wie jene dort, 
wie diese, 
wie jene, 
wie diese.
(eigene Übersetzung)

Was Creeley auf die ihm eigene, spezielle Art und Weise schafft und was in den vier obigen Zeilen aus „Song“, wie ich finde, so trefflich zugespitzt wird, leisten, in jeweils einzigartiger Ausgestaltung, auch andere Dichter: Sie widmen einer Angelegenheit den Fokus ihrer Aufmerksamkeit, nehmen etwas in die Hand, und lassen es dadurch an Bedeutung zunehmen, lassen es aus dem Gewimmel an Eindrücken deutlicher zutage treten, machen es sichtbar, lassen Stille werden drumherum und es für sich selbst sprechen.

In der heutigen Ära der Konsum- und Marketingästhetik, in der Aufmerksamkeit das knappste Gut ist, verhelfen Dichter dem rasenden Blick und Verstand gewissermaßen zum meditativen Innehalten: Lyrik (im Übrigen ja auch Kunst) bietet durch ihr In-die-Hand-Nehmen dem Leser und Hörer einen Aufenthaltsort an, in dem der Geist zur Ruhe kommen kann, wo eine neue Perspektive sich eröffnet, kaum Wahrgenommenes sichtbar wird, über das man vielleicht bislang leichtfertig hinwegging.

In der ehrlichen, ja schonungslosen Auseinandersetzung mit seinen Themen hält Creeley fest, was die Aufmerksamkeit der Menschen verbindet, und was doch letztlich das Bewusstsein des Einzelnen konstituiert: die (individuelle) menschliche Wahrnehmung von Realität in ihren oft idiosynkratischen und splitterhaften Pattern. Und das ist keineswegs obszön, denn es hat letztlich mit Liebe zu tun, genauer, mit emotionaler Intensität: Nur dort, wo der Dichter etwas als wert empfindet, darüber zu schreiben, zückt er den Stift. Damit drückt er eine nicht auf Revanche gegründete Wertschätzung aus, also gerade keine am Gegenwert orientierte Bedeutungszuschreibung, oder eine, die nur in der onanistisch verursachten Lust begründet liegt. Er bezeichnet das andere, außerhalb seines egozentrischen Sogs Liegende, das durch die Beachtung wachsen kann, und das nicht obszön oder pornografisch, also im Sinne einer sofortigen, sinnlichen Befriedigung gehandhabt wird. - Er exprimiert, wenn man so will, wahre Liebe.

Und diese ist niemals obszön. Ein lyrisches Du, das diese Liebe erwidert und dem Dichter in seine utilitätenfreie Zone folgen will, muss das verstehen.