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Ich lebe nicht in China, wo ich weder nach eigenem Gusto Geschichten und Facebookeinträge verfassen und veröffentlichen, noch unbehelligt und bei Bedarf kritisch meinen eigenen Blog füttern dürfte. Ich bin kein aus Syrien vertriebener Flüchtling oder Opfer von Diktatur und Armut wie beispielsweise viele Eritreer. Gemessen an meiner körperlichen und mentalen Unversehrtheit, meinem Unbehelligtsein, gehe ich, im Gegenteil zu den oben Genannten, durchaus als frei durch.

Komisch nur, dass es eigentlich egal ist, wie weit „entwickelt“ ein Staats- und Gesellschaftswesen ist: Freiheit - und die Definition davon - ist und bleibt ein Zankapfel, Diskussionsstoff, ja Zunder. Auch wenn hier in Deutschland unterm Strich weniger um unmittelbares und alltägliches Überleben gekämpft werden muss als anderswo. Macht mich das automatisch frei?

Persönliche Wahlen, Entscheidungen und Abwägungen sind Akte der Freiheit. Die (mit Wilhelm Schmid) vor dem Hintergrund historischer und biographischer Erfahrungen getroffen werden und somit der Willkür entgegenstehen. Sie sind Folgen der Auseinandersetzung mit bestehenden oder sich ergebenden Problemen und mit dem, was einer Person wünschenswert und intolerabel erscheint. Freiheit ist keine abstrakte Angelegenheit, sie zeigt sich in der Art und Weise, wie jemand lebt. Wie ein Mensch sich in verschiedenen Situationen gibt, wie er sich verhält und sich damit selbst formt. Je nachdem, wie man sich freiheitlich entscheidet, sein Leben zu führen und schwierige Situationen zu handhaben - im Einzelfall, in der einzelnen Herausforderung - definiert sich Freiheit. Und so macht sich im Laufe eines Lebens ein Stil wahrnehmbar, der die Bildung eines individuellen (und ethischen) Selbst bewirkt.

Freiheit - wie auch ein urteilsfähiger, kritischer Charakter - entsteht erst in der Praktizierung, im Handeln. Wem, wie vielen angepassten jungen Leuten von heute, die Übung im Selbstdenken fehlt, und der Mut, der aus der kritischen Auseinandersetzung mit dem Status quo erwächst, nicht aus dessen Akzeptanz und Affirmation, der kann schneller zum Opfer werden: der Multioptionalität, die uns gegenwärtig die Köpfe verdreht und uns überall potenzielle Errungenschaften hinhält; der Warenwelt und ihres Marketings, die uns Käuflichkeit als Belohnung für die kleinen und großen Lebenskämpfe präsentiert; von Ideologien, die Menschen verheizen, ohne ihre Eigenheit auch nur in Betracht zu ziehen.

„Freiheit“, so Christiane Florin in ihrer 2014 erschienenen Streitschrift „Warum unsere Studenten so angepasst sind“, „ist vor allem die Anpassung an den freien Markt“. Das hiesige, gängige System hat die Studenten zu einer „Effizienz ohne innere Beteiligung“ erzogen. Und das, kann man ganz zielorientiert schlussfolgern, macht sicher nicht einen unabhängigen, urteilsfähigen Charakter aus.

Freiheit und Multioptionalität scheinen auf den ersten Blick perfekt vereinbar zu sein, das kann jedoch täuschen: Zwar wird Freiheit von einer Pluralität an Optionen mitbedingt, doch kann eine solche auch überfordern. Die Folge - besonders für Menschen, die weder das Selbstvertrauen, noch die Erfahrung mit dem realistischen Beurteilen von Alternativen haben - kann zum Beispiel Politikverdrossenheit und ein Rückzug ins Private sein, in die eigenen bekannten Verhältnisse (siehe auch das Zeit-Magazin vom Januar 2015) oder, schlimmer, der Anschluss an eine Führung, die einem das Denken und Entscheiden abnimmt. Sei dies nun eine einzelne Führerperson oder eine Gruppe: Sie kann Denkunwillige und/oder im Selbstdenken und Selbstentscheiden ungeübte Menschen einer eigenen Anstrengung entheben und kommt ihnen so entgegen; und sie schafft ein trügerisches Gefühl von Verlässlichkeit, das jedoch bekanntermaßen schnell zum Korsett werden kann, in dem einem die Luft wegbleibt.

Warum zieht ein fertig formuliertes, geschlossenes Ideenkonstrukt, wie es viele religiöse oder dogmatische Weltbilder nach wie vor bieten, junge Menschen an, die eigentlich in sich den Drang spüren (müssten), die Welt für sich zu entdecken, ihr die selbst-gefundene Bedeutung beizumessen, die Welt für sich zu erfinden?

Oder fühlen junge Menschen heute nicht mehr so? Suchen sie eher in einer überkomplex gewordenen Welt nach Gruppenzugehörigkeit und metaphysischem Halt? Nach etwas, dem man sich vorbehaltlos anschließen kann? Ohne die ewige Anstrengung des Selbst-Zurechtfindens, des Bestimmens und Beurteilens, der man heute, in einer Zeit der absolut gewordenen Selbstverwaltung und Selbstoptimierung von klein auf ausgeliefert ist?

Überfordert wirkliche „Freiheit“, weil sie noch „on top“ kommt? Weil sie dem stets um sein soziales und existenzielles Überleben kämpfen müssenden Individuum noch den letzten Rest abfordert? Ist es zu viel verlangt, auch in seiner Freizeit, bewusst und initiativ an seiner charakterlichen Selbstbildung wirken zu müssen, sich nie auf den Definitionen und Deutungen anderer auszuruhen, sich stets kritisches Urteilsvermögen zu bewahren, stets wach zu sein und zu hinterfragen, zu zweifeln?

Freiheit ist Selbstbestimmung. Selbst entscheiden zu können, was für einen das Richtige ist, in einer Gesellschaft, in der das Individuum im Mittelpunkt steht: Das ist gelebte Demokratie. Und die wird zunehmend fragwürdig. Unsere Lebensverhältnisse werden über unsere Köpfe hinweg gestaltet: von den Mächtigen und Reichen dieser Welt, oft hinter verschlossenen Türen. Unser Lebensalltag ist geprägt von wirtschaftlichen Dominanten: Die Sprache, in der wir uns ausdrücken, uns verständigen, atmet den ökonomistischen Geist. Was übrig bleibt und in unsere Privatsphäre reicht, ist auch vom ewigen wirtschaftlichen Effizienz- und Optimierungsdiktat konditioniert und gehorcht den Zwängen des Konsums, der Anhäufungsgier nach messbaren Werten. Unter diesen Umständen ein selbstbestimmtes Leben zu führen erfordert zumindest „etwas Übung“.

Roland Reichenbach zufolge gelangt ein Mensch von der passiven und normierten, zur aktiven und ethischen Form der Selbstkonstituierung gerade durch den Gebrauch der Freiheit.

Nicht zuletzt darum greifen Fundamentalisten wie die des „Islamischen Staats“ so tief und grundlegend in die freiheitlichen Rechte des Einzelnen ein: Sie bauen ein diktatorisches Regime auf, in dem der und die Einzelne ihren Dogmen gehorchen und sich ihrer Sache unterwerfen, ja dafür sterben soll. Hinterfragen kann tödlich sein, abweichendes Denken wird umgehend bestraft, Andersdenkende, Andersgläubige sind das originäre Feindbild. Das Starre, Unflexible solcher Organisationen schließt von Haus aus die kritische Auseinandersetzung aus. Man ist entweder dafür, oder dagegen: Kann keine eigenen Modifikationen bewirken, keine abweichende Richtung einschlagen, sich selbst nicht einbringen (außer man schwingt stets im allgemein anerkannten Tune und ist DARIN besonders kompetent und besser als die anderen). Man muss immer schon so sein, wie die Organisation einen haben will: identisch mit dem vordefinierten Ziel, den vorformulierten Ansichten.

Man darf nicht zweifeln, keine Unruhe verspüren mit dem Propagierten, wo doch genau das Entwicklung und Selbstbildung erst ermöglicht. Denn das menschliche Selbst wird nie mit „sich“ identisch sein, genauer gesagt: bis zum Tod nicht, da es ständiger Veränderungen unterworfen ist, wie ja auch unsere Lebenssituation. Panta rhei. Alles ist im Fluss. In Bewegung. Muss stets neu ausgehandelt werden.

Verständlich, dass das vielen Angst macht. Nach Anstrengung klingt. Aber je mehr Situationen man meistert, desto sicherer wird man. Im Praktizieren der Freiheit. So arbeitet (auch wieder mit Reichenbach und Schmid) das ethische Subjekt an den Voraussetzungen für eine freiheitliche Gesellschaft mit, in der das Individuum im Mittelpunkt steht. Denn ein Mensch bewegt sich mit seiner Lebensführung in verschiedenen Dimensionen: in einer politischen, in der er dem Wunsch nach lebt, nicht untertan zu sein, und in einer gesellschaftlichen, in der er eine soziale Lebensform zu finden sucht, die auf der Selbstbestimmtheit der Subjekte beruht und diese ermöglicht.

Die Demokratie muss verteidigt werden, denn auch wenn sie noch mächtig Optimierungspotenzial enthält, ist sie zeitgenössisch das menschenfreundlichste und freiheitlichste, was wir haben. In ihr gilt das Gebot der Menschenwürde: „Du sollst nicht demütigen“ (Nida Rümelin) und in ihr ist es Individuen möglich, an sich zu arbeiten, sich zu entwickeln. Widrige Lebensumstände, heterogene geistige und emotionale Voraussetzungen, ja vielleicht gar: Abwechslung(!), jedenfalls Unruhe und ständiger Zweifel sind alles Aspekte, ja Bestandteile der gelebten Freiheit und Voraussetzungen, „die es dem Selbst ermöglichen, sich zu verändern.“ (Reichenbach). Freiheit erlaubt dem menschlichen Selbst, sich zu bilden, sich zu transformieren: Wir sprechen darum von einem Transformationsideal oder einer Ethik der Transformation (Foucault). Im Umkehrschluss gilt aber auch: Das menschliche Selbst muss im Vorgang des Praktizierens von Freiheit Transformation vollziehen. Aktiv.

Oder um noch einen, leider kürzlich verstorbenen Weisen zu bemühen: Wir können laut Hans Peter Dürr der uns umgebenden Wirklichkeit mit unseren bewussten Entscheidungen eine bestimmte Manifestationsrichtung geben. Und mit unseren ständigen freiheitlichen Entscheidungen eine dynamische Stabilisierung schaffen, die wiederum Modifikationen, Reaktionen und Korrekturen zulässt und nicht in Lähmung und Dogma resultiert.

Literatur:

- Wilhelm Schmid zitiert nach Roland Reichenbach: „Die Tiefe der Oberfläche: Michel Foucault zur Selbstsorge und über die Ethik der Transformation“. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 76, 2000.
- Julian Nida-Rümelin: „Über menschliche Freiheit“, Reclam 2005 und “Plädoyer für eine normative Anthropologie“, Vortrag aus der Reihe „Anthropologie und Ethik“ am Münchner Kompetenzzentrum Ethik vom 05.11.2013.
- Hans Peter Dürr: Warum es ums Ganze geht. Neues Denken für eine Welt im Umbruch, oekom 2009.