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„Die glücklichen Sklaven sind die erbittertsten Feinde der Freiheit. In diesem provokanten geflügelten Wort von Marie von Ebner-Eschenbach steckt vieles, worüber ich im Folgenden nachdenken möchte. Bieten heutige Frauenbilder - nach einer langwierigen und mühseligen historischen Entwicklung von der „Sklavin des Mannes“ zur „Partnerin auf Augenhöhe“ - genug Raum für weibliche Vorstellungen von Verwirklichung? Ich wage eine kleine, subjektive Rundumschau auf Wünsche und Tatsachen rund um das zeitgenössische „gute Leben“ als Frau.

„Kluge“ Frauen, die von der Zeitdokumentation bzw. der männlichen Dominanz lange unberücksichtigt gelassen oder stiefmütterlich behandelt wurden, treten immer öfter aus den Schattenfalten der Geschichte ans Licht der Öffentlichkeit oder werden daraus hervorgeholt. Was beispielsweise Künstlerinnen angeht, so kennt man auch einen Initialpunkt dieser Entwicklung: die internationale Ausstellung „Women Artists 1550-1950“ der Engländerin Linda Nochlin und der Amerikanerin Ann Sutherland Harris von 1976.

Seitdem kommt es, besonders in letzter Zeit, immer häufiger zu Ausstellungen/Veranstaltungen über „kluge“ Frauen: die Frankfurter Schirnausstellung „Impressionistinnen“ (2008/09), die Sammelausstellung „Ab nach München! Künstlerinnen um 1900“ (2014/15); aktuell läuft die historische Schau „Frauensache. Wie Brandenburg Preußen wurde“ im Schloss Charlottenburg, in der untersucht wird, wie Frauen unsere Geschichte seit 600 Jahren mitprägen, oder die eben begonnene „STURM-Frauen“ Ausstellung in der Frankfurter Schirn, um nur einige zu nennen.

Es gibt immer mehr Frauenbiografien und Bücher, die (meist themenspezifische) Sammlungen von Aphorismen und Zitaten „kluger“ Frauen präsentieren (auch Kalender, Grußkarten etc.) - wie gesagt: vor allem Sammlungen. Mütterberichte und Großmüttermemoiren, Porträts „eigensinniger Frauen“ (Dieter Wunderlich, Piper), „Jahrhundertfrauen erzählen aus ihrem Leben“ (Ute Seggelke, Insel), „Unbeugsame Lehrerinnen“ (Luise Berg-Ehlers, Elisabeth Sandmann Verlag), „Die Frauen der Genies“ (Friedrich Weissensteiner, Piper) und viele andere.
Einerseits muss wohl dem so lange währenden Übergehen weiblicher Existenzen Rechnung getragen und vieles, was unbemerkt geblieben ist, en masse aufgearbeitet werden - eben auch im Rundumschlag. Die Abhandlungen „kluger“ Frauen sind jedoch m.E. eher dazu angetan, weibliche Leben künstlich zu verkleinern, es stellt sich die Frage: Warum sollte ein ganzes Buch nötig sein um zu erzählen, was in einem Kapitel gesagt werden kann? Kondensieren kann eine wertende Herangehensweise sein - auch ein Wälzer über das Leben Napoleons kann auf wenige Sätze eingedampft werden, falls der Wunsch besteht. Andererseits gibt es solche subsumierenden Pauschalabhandlungen in der biografischen „Männerliteratur“ nicht bis kaum.

Mit Monografien oder Einzelveranstaltungen sieht das schon wieder ganz anders aus. Wie Barbara Vinken in ihrem Aufsatz „Die Intellektuelle: gestern, heute, morgen“ anmerkt, sind die „anspruchsvolleren“ Verlagsprogramme (beispielsweise das wissenschaftliche Hochkaräterprogramm von Suhrkamp) außerordentlich von männlichen Autoren und Gelehrten dominiert, Frauen finden oft höchstens als Begleitwerk bzw. als assistierendes Volk Erwähnung. Vinken befindet: „[I]n der Diffamierung der erfolgreichen Schriftstellerin als unvollkommene Autorin, unliebenswürdige Ehefrau, lieblose Mutter (nicht zu reden von Geschlechtszwitter und Hure) [besteht] nicht allein die Konkurrenzangst des Schriftstellers fort; in der Konkurrenzangst verbirgt sich die Angst des Mannes um die männliche Konstitution der Autorschaft. Dass diese Angst heutzutage nicht mehr so krude formuliert und aggressiv zutage tritt, heißt nicht, dass sie durch die Gleichberechtigung beruhigt wäre. Im Gegenteil hat die De-jure-Gleichstellung die phantasmatische Artikulation der misogynen Struktur tiefer gelegt oder verschoben.“1

Trotz dieses recht schwarzen Befunds gewinnen Foki auf Frauen und die in westlichen Gesellschaften stets geführten Debatten um ihre immer noch unzureichende Gleichstellung an Intensität und Häufigkeit: eine kaum bestreitbar gute und notwendige Entwicklung. Auch wenn die oben angeführten Veranstaltungen und Schriften meist nur Einblicke in weibliche Persönlichkeiten der (oftmals wohlsituierten und damit bevorteilten) intellektuellen Crème de la Crème bieten. Und damit noch lange keinen Garant für die Schätzung oder wie auch immer geartete Entlohung der zumeist unsichtbaren, weil im Privaten ablaufenden, ständig ausgeübten weiblichen Tätigkeiten rund ums Haus. Doch sind sie sicher ein Anfang (mag es manch einem/r ungeduldigen Beobachter/in auch wie ein „ewiger Anfang“ vorkommen).

In Zeiten, in denen der öffentliche Diskurs von Gleichstellungsauftrag und Frauenquote bestimmt wird, ist immer noch nicht alles selbstverständlich. Nicht, dass Mädchen und Frauen die gleichen Aufstiegsmöglichkeiten haben, nicht, dass Familiengründungen nicht auf Kosten der Frauen gehen, dass also Erziehungs- und Hausarbeit gleichberechtigt aufgeteilt wird, und beide Partner, ohne Verlust ihrer Arbeitsumstände (weiterhin) an ihren Karrieren/ihrer Selbstfindung feilen können.

Hier darf man dennoch eine wichtige Sache nicht vergessen: Karrierewege sind heute meist länger als früher. Wachsende Bevölkerungszahlen in den Städten und Konkurrenz v.a. in studierten Berufen wollen es, dass man in vielen Fällen lange in der Generation Praktikum verharrt, auf (formalen) Assistenzpositionen herumlungert und viele Jahre, von prekären Verhältnissen und Existenzängsten geplagt, nicht an Familienplanung zu denken wagt. Was auch aus dieser Richtung Frauen (und Männern) zugemutet wird, ist kaum dazu angetan, in einer beinharten, konkurrenzversessenen Arbeitsgesellschaft „Nestfeeling“ aufkommen zu lassen. Der hin und wieder ertönende politische Ruf nach mehr Nachwuchs ist gemessen an den gesellschaftlich-arbeitsmarktlichen Voraussetzungen und der bereitgestellten Infrastruktur Augenwischerei und verhallt auch mehr oder weniger folgenlos.

Nur um hier nicht falsch verstanden zu werden: Zweifel an der Fähigkeit der Frauen, im „männlichen Gewese“ mitzutun (keine fachlichen Implikationen mitgemeint), sind hier mitnichten vorhanden. Doch bezweifle ich die generelle Notwendigkeit vieler, oft beide Geschlechter in die Burnout-Spirale führenden Arbeitsanforderungen. Wie Zeitdiagnostiker ausführen, beispielsweise die Soziologin Jutta Allmendiger, würde eine reduzierte Vollzeit-Arbeitszeit (Allmendiger setzt bei einer 32-Stunden-Woche an) positive Auswirkungen auf psychische Gesundheit, Lebensgefühl und zwischenmenschliche Beziehungen haben2. Und nicht zuletzt einen möglichen Ausweg aus der Arbeitsplatzgefährdung in der um sich greifenden Digitalisierung bieten (vgl. dazu Autoren wie Oliver Stengel u.a.).

Nicht zuletzt um Familie in einer materialistischen Weiter-Höher-Mehr-Gesellschaft überhaupt möglich zu machen, arbeiten immer mehr (gegenwärtig knappe 60 Prozent) der arbeitenden Frauen in Teilzeit.3 Es ist durchaus richtig, dass die Umstände Frauen immer noch aus dem Arbeitsleben ausbremsen, viele von ihnen zugunsten Ehegattensplitting und Familienleben entscheiden, den karrieremäßig Kürzeren zu ziehen, zu Hause Kind und Herd zu hüten, und damit weitgehend auf Eigenvoranbringung und -entwicklung verzichten. Doch muss ich auch mit Blick auf mein persönliches Umfeld und die darin sich ereignenden Familiengründungen sagen: Sehr viele Frauen tragen diese Zustände mit, reproduzieren freiwillig die herrschenden, geförderten, sie benachteiligenden Verhältnisse. Die Gründe reichen von der „finanziell günstigsten Lösung“ bis zur Argumentation einer Auszeit von der seelenlosen Tretmühle.
Gilt die folgende streitbare Äußerung von Gerd Rinck aus einem ZEIT-Artikel vom 5. November 19654 über die (intellektuelle) Frau heute noch? „Die Minderzahl der intellektuellen Frauen erklärt sich daraus, daß (sic) viele Frauen, auch sehr intelligente Frauen, ihr Leben mit Haus und Kindern, vielleicht sogar mit ihrem Mann ausfüllen können und dabei glücklich sind. Gott sei Dank. Sie haben die Intelligenz, machen aber wenig Gebrauch davon. Sie sind vielleicht zu bescheiden. Leider.“

Sind viele Frauen wirklich zu bescheiden, sich selbst wichtig genug zu nehmen, um sich in der Welt der Erwachsenen voranzubringen? Zu bescheiden, um „sichtbare“ gesellschaftliche Gestaltungsarbeit zu übernehmen? Natürlich gilt aber auch: Solange die Umstände politisch gewollt sind, ist ein Ausbruch aus ihnen, besonders bei Angewiesenheit auf die staatlichen Fördermechanismen, schwierig.

In „Die Sorge um sich“ geht Foucault in die antike Vergangenheit zurück, um die damals üblichen Technologien des Individualismus, der Beschäftigung mit sich selbst zu erkunden.
Er erörtert, wie die damalige „Art de vivre“ von der Beschäftigung mit und der Sorge um sich selbst bestimmt war - eine Vorstellung, die in der griechischen Kultur ein altes Thema war (MF erwähnt Xenophon, Plutarch und Platon). Die Sorge um sich selbst galt als Pflicht-Privileg, dazu gehörten: Momente der Sammlung, der Vergegenwärtigung nützlicher Grundsätze, der Rück- und Vorausschau, die Möglichkeit, sich aus den täglichen Geschäften zurückzuziehen, ins Zwiegespräch mit sich selbst zu treten, eine maßvolle Befriedigung der Bedürfnisse inkl. der Berücksichtigung gesundheitlicher körperlicher Beschwerden sowie Meditationen, Lektüren und Notate, also das Überdenken von Wahrheiten.5

Moralisch bin ich hier ganz bei Foucault: Ein Mensch, der die Zeit und die Gelegenheit hat, seine eigene Responsivität der Welt gegenüber nicht nur zuzulassen, sondern auch initiativ zu reflektieren, ist eben nicht einer, der nur reagiert. Er befindet sich in ständiger Austarierung mit dem Leben und seiner Position darin (an früherer Stelle dieses Blogs habe ich schon erklärt, wie ich mir Freisein von Fremdbestimmung vorstelle).

Nun ist aber über solche Zeit, derer es nicht nur auf Seiten der antiken Männer bedurfte, schwer zu verfügen gewesen - wie MF einräumt, hatten v.a. Kulturträger solche reflexiven Möglichkeiten, der Durchschnittsmann von der Straße, der um sein Überleben und das seiner Familie kämpfen musste, eher nicht. Und wie es um Frauen zur damaligen Zeit bestellt war, erfahren wir von Foucault nicht: Die wurden meist schon als Kinder von der Schule genommen, verheiratet und hatten ein Leben als Haushaltskraft und Erzieherin zu führen. Soviel sei aber hier festgestellt: Zeit für die „Sorge um sich selbst“ hatten Männer historisch und zeitgenössisch immer schon viel mehr. Denn während ein Thomas Mann beispielsweise seine Wälzer ersann, mussten seine Kinder auf Zehenspitzen am väterlichen Arbeitszimmer vorbeischleichen, sollte ihre (wie es sich damals gehörte) Helikoptermutter sie überhaupt je soweit vorgelassen haben. An vielen solchen Verhältnissen, besonders wenn es um jene erfolgreicher (intellektueller, unternehmerischer) Männer geht, hat sich bis heute nichts geändert.

Man mag sich fragen, warum Foucault die Situation der Frauen nicht weiter für berücksichtigenswert hielt: Zwar wird in seinen Werken die Internalisierung von Macht ins Subjekt untersucht, nicht jedoch oder kaum die dabei jeweils spezifische, historische Situation der Frau. Wie Anna Schiller schreibt, könnte man sie jedoch als durchaus mitgemeint verstehen in der Äußerung Foucaults zum homosexuellen Mann: „Nichts von all dem, was er ist, entrinnt seiner Sexualität.“6

Übersetzt bedeutet das, dass ein schwuler Mann, genauso wie eine Frau nie von seinen/ihren dominanten sexuellen/geschlechtlichen Merkmalen getrennt betrachtet wird. Nie überwiegt das rein Menschliche. Die distinkte, abgegrenzte Setzung der Frau scheint nach wie vor ein Thema. In ihrem Vorwort zu „Das andere Geschlecht“ beschreibt Simone de Beauvoir (in Anlehnung an Benda) den vielleicht bedeutendsten Unterschied zwischen „Mann“ und „Frau“ so: Dem Mann erwächst Sinn aus sich selbst; die Frau dagegen „wird bestimmt und unterschieden mit Bezug auf den Mann, dieser aber nicht mit Bezug auf sie; sie ist das Unwesentliche angesichts des Wesentlichen. Er ist das Subjekt, er ist das Absolute: sie ist das Andere“7. Wie oft kommt es vor, das Frauen psychologisch und emotional heute noch, fast 50 Jahre nach Beauvoirs Werk, dieser bisweilen hinderlichen und selbstzerstörerischen Sichtweise aufsitzen! Solange das noch immer mehrheitlich der Fall ist, werden auch in der westlichen „Fortschrittswelt“ feministische Gedankenäußerungen und kritische Wachsamkeit ungerechten Verhältnissen gegenüber nicht obsolet.

Es scheint der härteste Kampf zu sein, der seit allen Generationen zwischen dem einen und dem anderen Teil der Weltbevölkerung tobt: der „Geschlechterkampf“ ums lebensweltliche Oberwasser. In rückwärtsgewandten Gemeinschaften versuchten und versuchen Männer historisch und aktuell rücksichtslos ihre Weltdeutung und ihr Weltgesetz durchzudrücken.

Den Resultaten einer aktuellen Konferenz zufolge (Bericht auf DLF)8 gelingt es der IS-Propaganda, genau solche jungen Männer aus unseren Gesellschaften zu akquirieren, die keine oder nur eine ungenügende Vaterfigur in ihrem jungen Leben hatten. Sie scheinen für ideologische Verführung anfälliger zu sein.
Hat das vielleicht auch mit einer Kultur zu tun, die die Freiheit und Selbstbestimmtheit der Frau und Mutter (jener erwachsenen Person also, die in einem Familienleben ohne Vaterfigur noch übrig ist, und zu der ein junger Mensch aufschauen und von der er lernen soll, während er aufwächst) vielfach unterdrückt bzw. nicht gelten lässt oder, wenn überhaupt in Betracht zieht, hinten anstellt? Ist nicht vielleicht auch eine starke, selbstbestimmte und in ihrer Individualität gefestigte Frau und Mutter für eine stabile Psyche und gesunde Moralvorstellungen des Nachwuchses relevant?

Das Elternpaar, vielleicht in besonderem Ausmaß eine anwesende, funktionierende Vaterfigur sollte dem männlichen Nachwuchs auch den „richtigen“, sprich würdevollen Umgang mit Sexualität und dem anderen Geschlecht nahebringen. Nicht zuletzt auch den Umgang mit Ressentiments, die entstehen können, weil junge Männer sich mit zunehmend stärkeren, ihnen oft intellektuell ebenbürtigen oder überlegenen Frauen konfrontiert sehen. Das Gefühl der Inferiorität kann, das haben viele Studien gezeigt, schnell in überbetontes Macho- und Alphatiergehabe umschlagen.

Nicht zuletzt auch aus dem Grund, weil sexuelle Ausbeutung bzw. in Aussicht gestelltes sexuelles Ausleben nachgerade DAS Lockmittel für die IS-Rekrutierung darstellt. Tatsachen wie die wiederholten Entführungen und Versklavungen von Frauen und Kindern und Berichte wie dieser lassen kaum noch Zweifel daran zu: „IS-Terror gegen Jesidinnen: Frauen werden bis zu 40 Mal am Tag vergewaltigt“9.
Hier wollen nicht „Gottesfürchtige“ „Ungläubigen“ das sittlich richtige Leben aus der Sicht des Korans „nahebringen“: Hier will jemand in jeder Hinsicht auf seine Kosten kommen. Seine Machtfantasien, seinen Chauvinismus und seinen Hang zu Gewalt und Unterdrückung ausleben. 

Ein anderes Ergebnis der oben angeführten Konferenz soll gewesen sein, dass der IS aus unseren gesellschaftlichen Reihen auch diejenigen Individuen leichter rekrutieren kann, die seelisch in „ihrer“ Gesellschaft nicht integriert oder zu Hause sind: Männer, die in jüngsten Jahren „diskriminiert“ oder „unterdrückt“ werden - in Kindergarten und Schule, wo sie den meist weiblichen Lehrkräften angeblich zu wild sind und ruhig „gezwungen“ werden, und in einer gesellschaftlichen Öffentlichkeit, die Metro- und Plurisexualität, verschwimmende Geschlechterdifferenzen und sexuelle Freiheit propagiert und lebt.

Mir stellt sich die Frage, warum in einer offenen Gesellschaft, in der auch völlig konservativ orientierte, reaktionäre Männer sicherlich ihren Platz haben, sie selbst die Toleranz nicht aufbringen können, anderen auch ihren Weg zu lassen. Sich stattdessen zum Kämpfer und Terroristen ausbilden lassen, um zu missionieren und/oder zu eliminieren.

Diskriminierungsvorwürfen wie den eben genannten steht (im Tagungsbericht auf DLF) das Argument des Historikers Olaf Stieglitz gegenüber, „dass die Rede von der ‚Krise der Männlichkeit' in der Geschichte allerdings auch oft dazu gedient hat, schwindende Machtpositionen für das Patriarchat zurückzugewinnen“. Männer, so könnte also die Schlussfolgerung lauten, „weigern sich mehrheitlich, unseren Vorstellungen einer reiferen, gendersensiblen, bi-sexuellen Geschlechtsidentität zu entsprechen“ (so Professor Frank Dammasch, Kinder- und Jugendlichen-Therapeut, DLF), sie wollen (und können?) sich scheinbar dem Wandel der Zeiten nicht anpassen. Handelt es sich also bei der Anfälligkeit für das rückwärtsgewandte IS-Ideengut, überspitzt gefragt, um eine Art Aufmerksamkeits-Deprivationssyndrom bzw. eine Trotzreaktion mit schrecklichen Folgen?

Und ist es aber nicht endlich für Männer an der Zeit, sich anzupassen?
Wie Rilke in seinem einzigen Roman „Malte Laurid Brigge“, in dem er sein Alter Ego Malte durch das damalige Fortschrittszentrum Paris streunen und tagebuchartig den Wandel der eigenen und der äußeren Zeit reflektieren lässt, sinnierend und schwermütig fragt:

„Aber nun, da so vieles anders wird, ist es nicht an uns, uns zu verändern? Könnten wir nicht versuchen, uns ein wenig zu entwickeln, und unseren Anteil Arbeit in der Liebe langsam auf uns nehmen nach und nach? Man hat uns alle ihre Mühsal erspart, und so ist sie uns unter die Zerstreuungen geglitten, wie in eines Kindes Spiellade manchmal ein Stück echter Spitze fällt und freut und nicht mehr freut und endlich daliegt unter Zerbrochenem und Auseinandergenommenem, schlechter als alles. Wir sind verdorben vom leichten Genuß (sic) wie alle Dilettanten und stehen im Geruch der Meisterschaft. Wie aber, wenn wir unsere Erfolge verachteten, wie, wenn wir ganz von vorne begännen die Arbeit der Liebe zu lernen, die immer für uns getan worden ist? Wie, wenn wir hingingen, und Anfänger würden, nun, da sich vieles verändert.“10

Mir der Gefahr wohl bewusst, vereinfachenden, biologistischen Deutungsmustern aufzusitzen, denke ich dennoch an die beinahe unermessliche Anpassungsfähigkeit von Frauen: Sie beginnt im Körperlichen und wächst hinaus über sie selbst, erstreckt sich auf ihr nahestehende und fremde Lebewesen - pflanzlich, tierisch (in vielen Kulturen kümmern sich Frauen um Nahrungsanbau, Feldarbeit und die Versorgung der Tiere) sowie menschlich. Dazu gehört die größere Nähe der Frauen zu Familie/Nachkommenschaft und Lebensalltag, ihre umfängliche Arbeit in „Erschaffung und [...] Erhalt der Gesellschaft (Reproduktionsarbeit) [..., die] Arbeiten im Haus, bei der Erziehung der Kinder, der Pflege der Alten und Hilfsbedürftigen und in der sozialen und kulturellen ehrenamtlichen Arbeit“, auch in Selbsthilfegruppen, die das männlich-ökonomistische „quid pro quo“ transzendiert und deshalb in unserer utilitaristischen Gesellschaft nach wie vor nicht genügend geschätzt, bzw. ignoriert oder für selbstverständlich befunden wird.11

Ich denke an die für Frauen häufigeren, weil bereits körperlich bedingten Erfahrungen von Kontrollverlust, der vielleicht psychologisch Adaptabilität und Toleranzfähigkeit fördern kann. Die schon durch ihre monatliche „Unpässlichkeit“ größere Nähe zu ihren Körpern, die schließlich in der Schwangerschaft zur geistigen und seelischen, direkten Erfahrung ihrer menschlichen Kontingenz sich auswächst: Wer sich selbst in seinem Ausgeliefertsein erfährt (und hier habe ich nun „positive“ bzw. „natürlich-kreatürliche“ Erfahrungsbeispiele angeführt, der „negativen“ und/oder „sozialen“ mag es aus der Sicht einer Frau in ihren diversen Lebenssituationen wohl genug geben), entwickelt zwangsweise mehr Offenheit für das Andere. Honi soit qui mal y pense! Demgegenüber mag die den Männern zuweilen eher gegebene körperliche „Robustheit“ stehen, ihre Unbehelligtheit von monatlich auftretenden Beeinträchtigungen, das darauf aufbauende körperliche Selbstbewusstsein, dass sich vielleicht ins Geistige fortsetzt. Die menschlichen Aspekte der Biologie, Psychologie und des Sozialen spielen alle eine Rolle und bedingen sich gegenseitig, wie die Philosophin Judith Butler vielfach erörtern konnte. 

Oft bleiben in unseren Breitengraden Diskussionen der Geschlechterdifferenzen auf dem Niveau von „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“ stehen und/oder bemühen steinzeitliche Geschlechterdeutungen. Es mag zwar langsam vor sich gehen, wenn sich psychische und bewusste Umwälzungen hin zu mehr Geschlechtergerechtigkeit, Rassengleichheit etc. vollziehen, doch allmählich müsste breiter angekommen sein, dass zum Menschsein mehr gehört als zum Angriff zu blasen und alles niederzutrampeln, was einem nicht zu Willen ist. Mag es auch nach Binsenweisheit klingen: Hier können und sollen Männer von Frauen lernen. Sie sind nicht die einzigen, die etwas weiterzugeben haben. Und es ist nicht unter ihrer Würde, Wissen und Verhaltensweisen anzunehmen: Das darf nicht mit dem Herauswachsen aus dem Kindes- und Jugendalter (!) aufhören.

Wieder ist auch vice versa nicht die Rede davon, dass ihre körperliche Voraussetzung Frauen von der Verfolgung eines unbeschwerten, gleichberechtigten Lebens abhält. Doch so, wie sich auch nach und nach die Ansicht durchsetzt, dass Männer und Frauen unterschiedlich erkranken und daher auch unterschiedlich medizinisch behandelt werden müssen, sollten auch in den anderen Lebensbereichen die jeweiligen Voraussetzungen, die ein Mensch mitbringt, berücksichtigt werden. Dass sich unser Denken diesen Individualisierungen allmählich öffnet, weg vom Archetyp des Mannes, der musterhaft für alle Weltdeutung Pate stand, hin zu Gendergerechtigkeit und „Multispecies Salon“ ist eine großartige, eine längst überfällige und vom Fortschritt der Menschheit kündende Entwicklung. Mögen also all diese angeführten Gedanken noch nicht zur Gänze ausgelotet sein, so offenbart sich doch zumindest, wie ich finde, eklatant die Notwendigkeit, dass man sie (weiter) diskutiert und Achtsamkeit dafür entwickelt.

Hier scheint mir auch die Soziologin, Philosophin und Feministin Frigga Haug beizupflichten, wenn sie von einer Gerechtigkeitsutopie schreibt, die bestehende Deutungen und Projektionen hinter sich lässt bzw. revidiert:
„Weil in den bisherigen Geschlechterverhältnissen Zustimmung zu herrschaftlichen Produktionsverhältnissen so hergestellt wurde, dass die Ausschließung des weiblichen Teils als sinnvolles Leben legitimiert und von beiden Geschlechtern stets reproduziert wurde, werden praktisch beide Geschlechterformen neu kulturell und praktisch gefasst und erfahren werden müssen. Dies wiederum ist bereits ein Schritt in eine andere Gesellschaft. Die Fragen der Geschlechterverhältnisse verschränken sich mit denen der Ökologie und der Demokratie.“12 Das sind politische, das gesamte Lebensspektrum betreffende Entwicklungen. Mit einer pauschalen Debatte über „Gleichheit“ und die damit oft einhergehende Ignoranz individueller Voraussetzungen ist einer gerechten Gesellschaft nicht gedient.
Die Philosophin Angelika Krebs stellt ebenfalls Gerechtigkeit über ein Prinzip von Gleichheit, das als abstrakte Pakethülle mit verschiedensten versprochenen Inhalten befüllt wird, und fasst eine gerechte Gesellschaft pragmatisch und gleichzeitig lebensnah: „Im Zentrum müssen Menschenwürde und Verteilungsgerechtigkeit stehen.“13

Was Männer von Frauen zu befürchten haben?
Nicht nur, dass sie ihnen vielleicht Ränge und Positionen streitig machen, sondern dass sie am Ende des Tages vielleicht in größerem Ausmaß und tragender zum biologischen und kulturellen Arterhalt, zur Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung moralischer Verantwortung und zur Geisterhaltung und Geistpflege beigetragen haben werden. Der Aufbruch der Frauen in eine solche Zukunft ist, trotz vieler Rückfälle ins männliche Barbarentum14, geglückt, irreversibel und allseitig gewinnbringend. Why not join them?

Fußnoten:

[1]  Barbara Vinken: "Die Intellektuelle: gestern, heute, morgen" (27.09.2010) http://www.bpb.de/apuz/32483/die-intellektuelle-gestern-heute-morgen
[2]  Jutta Allmendinger: "32 Stunden sind genug" (10.01.2014) http://www.brigitte.de/frauen/job/jutta-allmendinger-1149815/
[3]  NN: "Job und Kind: Frauen arbeiten immer öfter in Teilzeit" (19.02.2015) http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/teilzeit-58-prozent-der-frauen-arbeiten-nicht-vollzeit-a-1019311.html
[4]  Gerd Rinck: "Die Intellektuellen – unsympathisch" (05.11.1965) http://www.zeit.de/1965/45/die-intellektuellen-unsympathisch
[5]  Michel Foucault: "Die Sorge um sich". In: Michel Foucault. Die Hauptwerke. 3. Aufl. Frankfurt a.M. Suhrkamp Verlag, 2013. S. 1415ff.
[6]  Anna Schiller: "Michel Foucaults Machtbegriff und seine Rezeption innerhalb der Gender Studies" (26.04.2006) Universität für angewandte Kunst Wien, Vortrag im "Gender Art Laboratory".
[7]  Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek b. Hamburg. Rowohlt Verlag, 1977. Erste dt. Auflage 1968.
[8]  Fachtagung im Frankfurter "Haus am Dom": "Verwundbare Männer" bei IS, Pegida & Co.  (20.11.2015) Berichterstattung im Deutschlandfunk (DLF), Sendung: Tag für Tag: "Sind Männer das Problem?" http://www.deutschlandfunk.de/tagung-in-frankfurt-sind-maenner-das-problem.886.de.html?dram:article_id=337413
[9]  Holger Geisler im Gespräch mit Christine Heuer: "Frauen werden bis zu 40 Mal am Tag vergewaltigt" http://www.deutschlandfunk.de/is-terror-gegen-jesidinnen-frauen-werden-bis-zu-40-mal-am.694.de.html?dram:article_id=337399)
[10]  R. M. Rilke. Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Kriterion Verlag, Bukarest, 1976. S. 211.
[11]  Gisela Notz: "Unbezahlte Arbeit" (19.10.2010) http://www.bpb.de/themen/NZTUQ6,0,Unbezahlte_Arbeit.html
[12]  Frigga Haug: "Menschsein können oder: Welche Aneignung für das weibliche Geschlecht?" Editorial in Das Argument 55 Jg., #303, Heft 4/3013 S. 506.
[13]  Dirk Schönlebe: "Die Philosophin Angelika Krebs über Gleichheit und Gerechtigkeit" (Interview, 15.01.2007) https://www.fluter.de/sites/default/files/waagerecht.pdf
[14]  UN-Women zufolge ist weltweit jede dritte (!) Frau Opfer physischer oder sexueller Gewalt: http://www.unwomen.org/en/digital-library/multimedia/2015/11/infographic-violence-against-women