Lesezeit ca. 9 Minuten

Wenn man jung ist und zur Schule geht, denkt man selten daran, dass man in späteren Jahren, wenn alles gut geht, täglich, „from 9 to 5“, arbeiten wird. Man soll nicht daran denken, - weil man in seinen jungen Jahren mit anderen Dingen beschäftigt ist: die Welt und das Leben kennenzulernen, sprich, seine Allgemeinbildung zu erweitern und Handlungskompetenz herzustellen, aufzuwachsen und seine sozialen Interaktionen auszubauen, sich als gesellschaftliches Mitglied zu entwickeln und als Mensch zu entdecken, - und nicht zuletzt: zu spielen.

Im Idealfall übernimmt man mit zunehmendem Erwachsenenalter (zeitlich begrenzte) Arbeiten in unterschiedlicher Ausgestaltung und mit unterschiedlichen Verantwortungsgraden, bis man nach abgeschlossenem Bildungsweg seinen angestrebten Beruf, über den man sich - wieder im Idealfall - inzwischen klar geworden ist, erreicht hat.

Dieses Szenario klingt heutzutage so unwahrscheinlich, wie es tatsächlich von der Realität überholt ist.

Prekäre Arbeitsverhältnisse sind - besonders vor dem Hintergrund geisteswissenschaftlicher Orientierung - der Normalfall, Generation Praktikum lässt nach wie vor grüßen, und oft hat man (so man endlich, wenn überhaupt, eine ?unbefristete? Vollzeitstelle ergattert) als irgendjemandes Assistent irgendwie doch nur das zweifelhafte Vergnügen, die Drecksarbeit, die Fleißarbeit, die unerfreulichen, verantwortungsarmen Aufgabenbereiche übernehmen zu dürfen... Was selten ungenügender Kompetenz geschuldet ist, sondern eher der Tatsache, dass viele Menschen in höheren Positionen sich die Sahnestücke an Tätigkeiten herauspicken und keineswegs daran interessiert sind, potenzielle Konkurrenten auszubilden...

Soviel zur eigenen und zur Erfahrung von Freunden. Nun zum Ideal.

Die eigene Arbeit soll der existenziellen Sicherung dienen, sie soll funktionalisieren, was man gelernt hat, es weiterentwickeln, einem geistig und organisatorisch Halt im Wirbel des Lebens geben und nicht zuletzt auch durch sozialen Austausch gesellschaftlichen Rückhalt ermöglichen. Arbeit soll möglichst zur eigenen Selbstverwirklichung beitragen - so das Credo und die Hoffnung der heutigen (gehobenen) Selbstoptimierungsgesellschaft. Doch gerät inzwischen schon jede Ausbildung und höhere Bildung - jedes bolognaverkürzte, verschulte Studium, das keinen Platz mehr bietet zur Ausprobierung des eigenen Charakters, der eigenen Fähigkeiten und Wünsche, eben für Selbstexperimente - zur Abrichtung auf den Arbeitsmarkt, und zieht meist den Schlussstrich unter einen freiheitlichen Entwicklungsflug, bevor der auch nur angefangen hat. Ein Leben im Schatten des Leistungsdrucks ist wie ein nichtgelebtes Leben. Keine Zeit zum in sich selbst Hineinhorchen. Keine Zeit für falsche Entscheidungen bzw. deren Berichtigung, für Kurskorrekturen und Erfahrungsdiversität (siehe auch Jutta Allmendingers Plädoyer „Bitte nicht so brav!“ für fluter #36: Thema Arbeit).

Aus wiederum eigener Erfahrung liest sich Arbeit so: viel arbeiten. Dauernd arbeiten. Immer wieder die Wochenenden durcharbeiten, manchmal monatelang ohne Unterlass - seit über 6 Jahren, seitdem ich nach meinem Studium mit dem Arbeiten begann. Die existenzielle Sicherung ist dennoch nicht nur in der Schwebe: Sie ist über das Überlebensniveau hinaus nicht gegeben. Nicht innerhalb meiner eigenen beruflichen Vorstellungen und Wünsche. Ich lebe von der Hand in den Mund.

Wenn man, so meine Erfahrung, aus einem durchschnittlichen Mittelklassehaushalt kommend, eigene inhaltliche Visionen für seine berufliche Karriere mitbringt, hat man es nicht leicht. Außer man ist zufällig gerade enthusiastisch am Informatik, BWL oder Maschinenbau studieren und sieht diese Berufsbilder als Vervollkommnung des eignen Strebens an. Dann könnte man mit schätzungsweise über 90%iger Sicherheit auf eine stete, verlässliche berufliche Versorgung, sicher auch Karriere Kurs nehmen. Wenn du voraussiehst, was der Arbeitsmarkt haben will, und dich brav danach richtest, wirst du belohnt. Aber wir können nicht alle Informatiker, BWLer oder Ingenieure sein - abgesehen davon, dass das gesellschaftlich wohl kaum gewollt sein kann - oder? Doch wehe denen, die andere Talente oder Visionen mitbringen...! Schwimm im Strom, oder geh unter: So könnte man die Devise der seit Jahren vorscherrschenden Arbeitsmarktsituation formulieren. Oder gib' dich zufrieden mit einer Position, die dein Niveau unterläuft und lass dich instrumentalisieren für fremdbestimmte Aufgaben, fragwürdige Interessen.

Freiheit der Wahl ist höchstens denjenigen noch vorbehalten, die über Rücklagen oder finanzielle Unterstützung und Förderung im familiären Umfeld verfügen. Einige Jahre entlang eigener inhaltlicher Interessen vor sich hinarbeiten, ohne Geld zu verdienen, nicht darauf angewiesen zu sein, Geld zu verdienen - dank finanzieller Sicherung frei im Interesse der eigenen Sache tätig sein zu können, zu netzwerken: purer Luxus. Ergibt übrigens auch nur Sinn, wenn man - wiederum leichter über gegebene familiäre Verbindungen - dann auch irgendwo einen Fuß in die begehrte Tür kriegt. Erhöht allerdings durchaus die Chancen, einen Fuß in die begehrte Tür zu kriegen, denn man hat sich ja ausprobieren dürfen, konnte Erfahrungen sammeln... Die freiheitlich gewählten, erfolgreichen Berufsbilder (besonders mit kultur- bzw. geisteswissenschaftlichem Appeal) reproduzieren sich so in erster Linie selbst. Man bleibt unter sich. Chancen, sich zu bewähren, erhalten die Allerwenigsten (Außenstehenden). Der Rest kommt vom im Studium eingeschlagenen Pfad ab und verdingt sich fachfremd - zumeist eben in prekären Verhältnissen.

Für den (sehr untypischen) Ökonomen Ernst Friedrich Schumacher dient Arbeit der „Läuterung des menschlichen Wesens“, gleichzeitig ist sie die Garantie für einen erfüllenden Lebensstil und gesellschaftliche Gewaltfreiheit. Als Lebensprinzip bietet sie, was die Menschen brauchen: immer zugleich Freiheit und Ordnung. Sie schafft ein schöpferisches Gleichgewicht zwischen beiden Sehnsüchten, da eine endgültige Lösung entgegengesetzter Notwendigkeiten wie dieser oft nicht möglich ist.

Wie kann aber Arbeit läutern und schöpferisch sein, wenn sie den eigenen Wert untergräbt? Wenn sie schlecht bezahlt und in verdummender Repetition abstumpfend, ja lähmend und frustrierend ist? Wie kann eine Arbeit läutern, zu der ich mich unter Umständen zu früh entschied - ohne die nötige Erfahrung oder Selbstkenntnis - als Schüler oder Schülerin, unter dem Druck von Eltern, Gesellschaft und Arbeitsmarkt, der über die omnipräsente, omnikontributive Wirtschaft in Schule und Bildungssystem Mitspracherechte erhielt? Und ohne die Länge eines Lebens zu berücksichtigen? Was dann unter Umständen zu Langeweile und Erschöpfung führt sowie am Sinn des eigenen Lebensentwurfes (ver)zweifeln lässt?

Oder Arbeit, die das Ergebnis scharfer Konkurrenzsituationen ist, denen zufolge ich aus lauter Angst, arbeits-los zu sein und den über jede noch so minderwertige, unerfüllende Arbeit definierten menschlichen Wert zu verlieren, bereit bin, jede Arbeit anzunehmen: egal, ob sie, wie der Philosoph Robert Menasse in seinem Interview zu Arbeit und Entfremdung ausführt, mir oder anderen Schaden zufügt?

Und wie kann eine Arbeit dauerhaft erfüllend sein, wenn ich sie eingedenk dessen verrichten muss, dass ich als Frau für die gleiche Stelle um bis zu 25 Prozent schlechter bezahlt werde als ein Mann? Oder wenn ich an eine gläserne Decke stoße, die mir den Aufstieg in Vorstand, Aufsichtsrat oder Professorenrang abschneidet? Meine Kompetenzen außen vor lassend?

Der sinnstiftende Charakter von Arbeit, den Schumacher meint, und der schon immer als Desiderat existierte, ist heute noch Wenigeren gegeben. Sogar die üppig bezahlten Berufsbilder der Manager und Bankiers bezeugen das seit Langem: Zu zahlreich sind die Geschichten von moralisch fragwürdigen und komprommitierenden Spekulationen und Entscheidungen, die täglich getroffen werden müssen, von bis zur Absurdität gesteigerten „Mein Haus, mein Auto, mein Pferd“-Situationen über exzessives Geschäftsabschlussgebaren samt Drogen- und Hurenszenarien, von Parallelexistenzen der eigenen Familie gegenüber, von Ausgebranntheit und Sinnlosigkeit. Hier täte individuelle, geistige und sittliche Emanzipation zugunsten von mehr Lebenssinn und -glück genauso not, wie in anderen Bereichen der neoliberalen Versachlichung und Fehlpriorisierung.

Arbeit ist und bleibt in der heutigen Zeit ein Sorgenkind: Das Arbeitsamt schönt die Statistiken, der Wirtschaft sind die von ihr mitverursacht zu kurz die Schulbank drückenden Finalisten inzwischen selbst zu doof, das Industrie- und Handelsgewerbe darbt an fähigen Eleven. 

Auf der anderen Seite bekommen Schüler mit 14 ihren ersten Burn-out, können sich weder zeitlich noch finanziell Auslandsaufenthalte und Schnupperzeiten gönnen, probieren schon im Teenageralter verbissen, eine Ich-AG aus sich zu machen, und landen spätestens nach den ersten Berufsjahren, etliche psychische Leiden, Sehnenscheidenentzündungen und Bandscheibenvorfälle später, doch im gesellschaftlichen Off der Arbeitslosigkeit und bei der quälenden Erkenntnis, etwas verpasst zu haben: It's life, dummy!*

Während Adorno seinerzeit, damals vielleicht noch für viele überraschend „die Eliminierung der Qualitäten, ihre Umrechnung in Funktionen“ im Arbeitsleben beklagte und als Folge eine Verarmung des Denkens und der Erfahrung heraufdämmern sah, sind wir schon längst soweit, dass wir selbiges voll akzeptiert haben, - vereinzelt noch klagen, ja, aber resignierend, denn die vorherrschende Façon konditioniert zur Frage: „Wer kann daran schon etwas ändern...?“

Adornos Diagnose (in der Dialektik der Aufklärung) trifft heute voll zu: Der Geist IST gänzlich zum Apparat der Herrschaft und der Selbstbeherrschung verkommen, das Denken ist nurmehr beschränkt auf Organisation und Verwaltung. Darin ist er sich mit dem kritikaffinen Foucault einig.

Doch muss man, auch wiederum mit Adorno, sagen, dass nur in der Nische zwischen Arbeit und Freizeit noch Erbauliches passieren kann (Minima Moralia. #84: Stundenplan). In seinen Worten: „Einzig listige Verschränkung von Glück und Arbeit läßt (sic) unterm Druck der Gesellschaft eigentliche Erfahrung offen.“ Wer sein Leben selbstbestimmt gestalten will, wer keine der prekären, existenziell stets verwundbar haltenden oder der tretmühlenartigen, an ständigen Überstunden krankenden, ohnehin raren Vollzeitstellen ausfüllen will, wer sich nicht fremden, intransparenten oder moralisch fragwürdigen Interessen in den Dienst stellen will, der muss - wenn er sich für die Ausübung seiner Talente und Faibles entscheidet - die Verschränkung von Leben und Arbeit nicht nur in Kauf nehmen, sondern aktiv suchen. So, stelle ich fest, tun das heutzutage kreative, am Ernst des Lebens interessierte Menschen, und nur so scheint - letztlich natürlich oft genug auf Kosten der körperlichen Gesundheit und des sozialen und unbeschwerten Lebens - der Erhalt der persönlichen Integrität zu funktionieren.

Wenn wir, wie Hans-Peter Dürr vorschlug, alle unser Gewissen befragen würden, bevor wir uns für die Ausübung eines Berufes entscheiden, wenn wir uns bewusst die (extreme) Frage stellen würden: Will ich an dieser Atombombe mitbauen? Wenn wir immer mit berücksichtigen würden, was eine Arbeit bedeutet, welche Lebensbereiche sie gestaltet, wie sie uns selbst formt, was sie der Gesellschaft einbringt - dann gäbe es viel weniger verantwortungslose, parasitäre Positionen und mehr berufliches Verhalten im Sinne der Allgemeinheit: Dann würde der kapitalistische Egoismus öfter unterlaufen werden und der einzelne Mensch am Ende vielleicht weniger wohlhabend, dafür aber glücklicher und gelassener sein. Keine Neuheit, aber eine altbekannte, zu erinnernde Schlauheit?

Allerdings braucht man in Zeiten der Transition-Town-Bewegungen, des Urban Gardening und der alternativen Lebensentwürfe auch nicht die Hoffnung fahren zu lassen: Die Menschen entdecken das gute Leben wieder, sie erobern es sich zurück, sie streben gemeinschaftliche Beschäftigungen und sinnstiftende Arbeiten an, Gewerkschaften kämpfen endlich für das Ansehen der sozialen Berufe, gegenwärtig und früher aktive Frauen werden im Kultur- und gesellschaftlichen Betrieb (wieder)entdeckt und mit ihren Errungenschaften restituiert: Das nach wie vor dominante neoliberale, männliche Modell des homo oeconomicus gerät an vielen kleinen Stellen ins Wanken.

Daran hat auch Schumacher mit seinem „Small is beautiful“ (veröffentlicht in den 70ern, aktuell wie nie) mitzuwirken versucht: das in seinen Augen überholte System gigantomanischen Wachstums und Größenwahns, riesenhafter, abgehobener Arbeitsstrukturen zu stürzen bzw. als kontraproduktiv, anonym und die menschliche Würde untergrabend zu entlarven und Alternativen zu denken. In den kleinen, vernetzten Strukturen liegen s.E. die größten, tiefsten Potenziale. Doch wie das mit dem Hineinzoomen immer so ist: Man muss viel Interesse und Offenheit für Details mitbringen, kurz: Die Möglichkeit zur Bildung muss gegeben sein. Und da beißt sich die Katze mal wieder in den eignen Schwanz. Bildung, diese Ausstattung des Menschen mit Orientierungs- und Kritikfähigkeit, mit Handlungskompetenz und Toleranzpotenzial, fällt nicht vom Himmel. Und kann auch nicht en passant, im Nebengang zu einem überbeanspruchenden, lebensabsorbierenden Pflichtprogramm absolviert werden.

Dazu noch eine mir persönlich wichtige Notiz: Es würde das geschlossene, uns nolens volens gegeneinander ausspielende kapitalistische System wesentlich aufbrechen, wenn das Gehalt der Arbeitenden kein Tabuthema mehr wäre. Als Stoff, über den in fast umfassendem Einverständnis nicht geredet wird, kann das Tabuthema „Gehalt“ als größtes Internalisierungszeichen der Kapitalismusattribute Konkurrenz und Egoismus gelten - doch die eigentliche Frage bleibt unbeantwortet: Warum und wie könnte es schaden, sich über Gehälter auszutauschen?

Was könnte mir der Andere wegnehmen, dem ich das erzähle? Ein von Verlustängsten unbeschwerter Austausch würde wohl am ehesten noch Gutes bewirken, denn die durchschnittlichen Gehaltsforderungen würden dem Austausch zufolge ja eher steigen und somit der Wert der Arbeit an sich und nicht umgekehrt! Ein weiterer positiver Nebeneffekt wäre, dass sich vielleicht endlich die Geschlechterungerechtigkeiten bei der Entlohnung abschaffen ließen. Es ist also um ein Vielfaches wahrscheinlicher, dass diese künstlich hergestellte Tabusituation den Interessen der Arbeitgeber und der Unternehmensführer entstammt, als denjenigen der Angestellten. Sie zwingt uns, weil fast alle sich daran halten, uns eher von einander zu entfernen, als das goldene Kalb im Auftrag demokratischer Gleichheit beim Namen zu nennen.

Auch diese kleine „breeze of change“ könnte dazu beitragen, Orientierungswissen bereitzustellen, statt Verfügungswissen (Dürr) anzuhäufen. Und damit letztlich dem Menschen und der Arbeit am guten Leben dienen.

Fußnoten:

* Siehe aktuelle Artikel zum Thema in ZEIT und SZ.
** Alle Quellen im Text genannt, außer: Hans Peter Dürr: Warum es ums Ganze geht. Neues Denken für eine Welt im Umbruch, oekom 2009.